Hamburg. Der Psychothriller „Girl on the Train“ ist ein Millionenerfolg. Das ist nicht allein dem Marketing zu verdanken.
Als der schlanke gut aussehende Mann seine Hände um die Taille der blonden Jess legt und sie küsst, bleibt Rachel die Luft weg. Wie kann das passieren? Jess ist doch glücklich mit Jason verheiratet, sie lieben sich, haben ein schönes Zuhause, alles ist gut. So wollte auch Rachel immer leben. Warum dann dieser andere Mann? Was hat er auf der Terrasse von Jess und Jason zu suchen? Ist Jason auf Geschäftsreise? Betrügt Jess ihn? Rachel beobachtet die Szene aus dem Morgenzug heraus, der auf seinem Weg nach London vor einem roten Signal halten muss. Es ist der 12. Juli 2013, ein Freitag, und dieser Tag wird das Leben von Rachel und mindestens vier weiteren Menschen radikal verändern.
„Girl on the Train“ heißt der Psychothriller, mit dem die britische Autorin Paula Hawkins aktuell die Bestsellerlisten aufmischt. Ein Buch, das auch das Leben der Autorin radikal verändert hat. Die in Simbabwe geborene Hawkins, 42, arbeitete in London als Journalistin, bis sie sich als Autorin versuchte und unter dem Pseudonym Amy Silver Unterhaltungsromane schrieb. Weitgehend erfolglos.
Das sollte sich ändern, als Hawkins begann, etwas Spannendes zu schreiben. Bereits das halb fertige Manuskript reichte sie bei einem Verlag ein – und das Thrillermärchen konnte beginnen. Die Filmproduktionsfirma Dreamworks sicherte sich flugs die Rechte an dem „halben“ Roman (Emily Blunt wird zurzeit in der Rolle der Rachel gehandelt). Und in einer konzertierten Aktion aus Marketing und Schreibkraft der Autorin entstand innerhalb weniger Monate der fertige Roman. In den USA sprang das Buch, dessen Titelnähe zum Millionenseller „Gone Girl“ von Gillian Flynn vermutlich kein Zufall ist, sofort auf Rang eins der Bestellerliste der „New York Times“, ebenso in England. Rund drei Millionen Exemplare sind seit der Veröffentlichung im Januar allein im englischsprachigen Raum verkauft.
In Deutschland gab es zum Start vor wenigen Wochen großflächige Plakatierungen an ICE-Bahnhöfen, Infoscreenwerbung an Bahnhöfen und in Zugabteilen. Was funktioniert hat: Aktuell steht „Girl on the Train“ auf Platz zwei der Paperback-Bestenliste des „Spiegels“, auf Rang drei im „Focus“.
Nun kann man mit einem gewissen Recht von einem „gemachten Bestseller“ sprechen, insofern jedenfalls, als eigentlich jeder Verlag mit einem Buch versucht, einen Bestseller zu „machen“. Was allerdings eher selten gelingt. Hier mag die Marketing-Kraft, die freilich nicht jeder Verlag aufzubringen in der Lage ist, einen gewissen Einfluss auf den Erfolg gehabt haben. Ohne Frage. Aber man wird dem Buch nicht gerecht, speiste man es als eine Art Retortenprodukt ab. Denn ein Patent, wie man einen Bestseller „macht“, gibt es nicht und wird es gewiss auch nie geben, was nur gut ist. „Girl on the Train“ ist kein „gemachter“ Bestseller, sondern ein mit aller Wucht des Marketing „gewollter“ Bestseller.
Dass dieses Projekt gelungen ist, liegt aber auch an der Geschichte, die Paula Hawkins erzählt. Nur einen Tag nachdem Rachel die offenbar betrügerische Szene aus dem Zug heraus beobachtet hat, ist besagte Jess wie vom Erdboden verschwunden. Jess heißt eigentlich Megan, Rachel hat sich die Namen Jess und Jason für ihr Traumpaar lediglich ausgedacht.
Als Rachel zur Polizei geht, um von ihrer Beobachtung zu erzählen, mag ihr niemand so recht Glauben schenken, denn schnell wird klar: Rachel ist Alkoholikerin, sie ist depressiv, sie hat ihren Job wegen Trunksucht verloren. Zudem ist sie geschieden – und ihr Ex wohnt mit seiner neuen Frau und der kleinen Tochter nur wenige Häuser neben der verschwundenen Megan und deren Mann. Rachel hat kein Alibi für jene Nacht, in der Megan verschwand, aber einen Blackout: Betrunken irrte sie durch einen Tunnel, in dem sie Dinge gesehen hat, an die sie sich nicht mehr zu erinnern vermag.
Paul Hawkins treibt ein raffiniertes Spiel mit Wahrheit und Lüge, keine der beteiligten Personen wirkt glaubwürdig, nichts ist letztlich so, wie es anfangs scheint. Handlung und Charaktere sind plausibel. Was wahrlich nicht bei jedem Psychothriller selbstverständlich ist.
Deshalb gilt auch für „Girl on the Train“: Bei allen wirkungsmächtigen Marketingmechanismen – es ist das Lektorat, das vor allem erst einmal erkennen muss, dass es eine gute Geschichte ist, die da erzählt wird oder erzählt werden soll, und dass diese Story gut genug ist, um eventuell ein Millionenpublikum zu interessieren. Gewissheit gibt es nie.
Nicht immer wird so etwas vonseiten des Lektorats erkannt, wofür es recht dramatische Beispiele aus der deutschen Verlagslandschaft gibt: So lehnte etwa der Reinbeker Rowohlt Verlag Anfang der 1990er-Jahre Henning Mankells ersten Wallander-Roman „Mörder ohne Gesicht“ ab, weil darin ein Auffanglager für Asylbewerber in Flammen aufging. Auch in Deutschland gab es zu jener Zeit vergleichbare Anschläge. Und Bertelsmann hatte, allerdings aus anderen Gründen, zehn Jahre zuvor Umberto Ecos „Der Name der Rose“ abgelehnt. Wie man weiß, bescherten in den Folgejahren beide Autoren – Mankell wie auch Eco – mit ihren Büchern dem Hanser Verlag einen kaum enden wollenden Geldsegen.
Das geschah ohne einen mit „Girl on the Train“ vergleichbaren Marketingwirbel. In den USA übrigens läuft das Buch weitgehend bereits unter einem vielsagenden Kürzel: „GOTT“. Vermutlich eine Marketingidee.