Hamburg. Das Orchester hat es nicht geschafft, sich auf einen neuen Chefdirigenten als Nachfolger für Sir Simon Rattle zu einigen.

Jetzt ist er da, bestens sichtbar für die gesamte Klassik-Welt: ein klaffender, scheinbar unüberwindbarer Orchestergraben. Nachdem 123 stimmberechtigte Berliner Philharmoniker fast einen halben Tag lang hinter verschlossenen Türen in Berlin-Dahlem ihren neuen Chefdirigenten krönen wollten (ein weltweit einmaliger Luxus), gingen sie am späten Montagabend mit leeren Händen auseinander. Ergebnislos. Ratlos. Blamiert? Auf der Orchester-Homepage spricht ein Foto des leeren Dirigentenpodests frustriert Bände. „Noch keine Entscheidung über die Nachfolge“ steht dort.

Es ließe sich lang darüber philosophieren, ob dieses Dilemma für das berühmteste und in vieler Hinsicht beste Orchester der Welt gut oder schlecht ist. Auf lange Sicht stimmt beides. Dieser Streit wird das Orchester spalten, in mindestens ein Lager. Denn offenbar ging es nicht nur um eine Stichwahl Alt gegen Jung, nur zwischen jenen, die den wertkonservativen Christian Thielemann wollten, und den anderen, die für Andris Nelsons plädierten, der 20 Jahre jünger ist und ganz anders tickt. Vielleicht wird dieser Richtungsstreit das Orchester sogar lähmen in seiner Neuausrichtung, die der Weggang von Sir Simon Rattle in drei Jahren jetzt notwendig macht.

Es dürfte Monate dauern, bis auch nur ein möglicher nächster Wahl-Termin feststeht. Vor den Kulissen wird der Konzert-Alltag wie bisher weitergehen: Die Berliner werden mit ihrem Noch-Chef Rattle und Gastdirigenten proben und umjubelte Konzerte geben, sie werden auf Tourneen gehen und Gastspiele vorbereiten. The show must go on. Die Berliner sind eine millionenschwere Hochkultur-Weltmarke, die nicht mal eben ins Trudeln geraten und die man erst recht nicht beschädigen darf. Beides ist trotzdem passiert.

Hinter den Kulissen steht eine gründliche Positionsbestimmung an, viel diplomatisches Feingefühl wird dafür nötig sein. Wie soll man den Finalisten der gescheiterten Wahl erklären, dass sie alle damals nur zweite Wahl waren? Wer von ihnen wird diese Schmach vergessen oder verdrängen, falls er beim zweiten Anlauf tatsächlich den Anruf erhält, dass er nun annehmen könne? Ist der Lack womöglich ab von diesem Prestige-Posten, hat sich die Karajansche Pultgott-Patina wegen Vorgestrigkeit erledigt? Sind ausgerechnet die Berliner Philharmoniker, deren kollektives Ego so groß und so legendär ist wie ihr Ruhm, vielleicht doch nur eines von sehr wenigen tollen Orchestern und eben nicht mehr Maß aller Dinge? Hat sich das Konzept Über-Maestro eh überlebt, auch, weil chefdirigentenfreie Ensembles vormachen, dass es sehr gut ohne geht? Wenn der erste Schock über das eigene Tun und Lassen verdaut ist, wird man sich in der Berliner Philharmonie viele solcher Fragen stellen müssen. Die wenigsten sind bequem. Alle sind wichtig.