Hamburg. Grigory Sokolovs Klavierabend in der Laeiszhalle bot selten erlebte Erkenntnistiefe

Gegen das chronische Geunke, wie verstaubt, unpopulär und überanstrengend klassische Musik doch sei, war der Anblick des Laeiszhallen-Vorplatzes am Montag eine erstklassige Medizin. So viele „Suche Karte!“-Schilder, so viele hoffende Gesichter sind dort nur selten zu sehen, und es ging eben nicht um einen der üblichen Schaumschläger, sondern um einen rätselhaft gebliebenen Solitär: Sokolov, mit Bach, Beethoven, Schubert. Der ganz gute Stoff, mal wieder, der süchtig machende.

Nicht alles an diesem bis auf den letzten Platz gefüllten Klavierabend, der nach sechs Zugaben (vier Chopin-Mazurken, das Des-Dur-Prélude und Debussys „Canope“ als finales Klangwölkchen) sein spätes Ende fand, war so überragend wie erhofft. Aber auch das geht in Ordnung bei einem Pianisten dieser Gewichtsklasse, dem im Zugabenteil Flüchtigkeitsfehlerchen durchrutschen, von deren interpretatorischem Niveau andere nur träumen. Denn schon der Einstieg in den Solo-Abend war von einer gelassenen Erkenntnistiefe inspiriert, wie man sie nur selten erlebt.

Sokolovs Vorgangsweise: ein Ausdruck künstlerischer Lebenserfahrung

Bachs B-Dur-Partita machte den Auftakt, nicht als Kontrapunkt-Strickmuster für Fingerfertige, sondern als transparentes Spiel zweier Stimmen, als ein Dialog mit Sachkenntnis und – das Wort ist ja eher nicht mehr in Mode – Anstand. Fein ausgearbeitete Dynamik, klug verspielte Beschränkung auf das Notwendige, nicht das Herausputzen des Möglichen. Bach für Erwachsene. Und danach, als rasanter Kontrast, Beethovens frühe, aufbrausende D-Dur-Sonate. Viel Brimborium, viel Fingerfutter, viel forsches Reinrauschen und Herumtollen.

Die Stimmungsbilder nach der Pause waren ganz andere: Schuberts a-moll-Sonate, eines jener Stücke, das sich nicht für nur eine Form der Weltfremdheit entscheiden mag, weil Zehren und Zagen auf so vielen Arten möglich ist, und das Sokolov mit wunderbarem Einfühlungsvermögen einer Gestalttherapie unterzog. Schon hier wurde der Fluss der Musik, ihr Stürmen und Zögern, durch eine wie aus dem Moment entstandene Vor­ahnungs­losigkeit bestimmt. Einstudiert, antrainiert, unausgewogen und ohne innere Balance womöglich? Diese Kategorien vermeidet Sokolov. Sein Anschlag, der Bögen, Schattierungen und Nuancen so diskret anbietet, als wäre das keine Kunst, ist mehr ein Vorschlag: So könnte es passen, wie wäre es damit? Und dennoch ist Sokolovs Vorgangsweise ein Ausdruck künstlerischer Lebenserfahrung, die sich wohl erst einstellt, wenn man sehr vieles richtig gemacht hat und womöglich auch einiges falsch. Deswegen waren Schuberts „Moments musicaux“ auch ein so passendes Finale: weil Sokolov seine Detailversessenheit für die kleine Form so großartig auszuloten verstand.