Hamburg. Mehr und mehr besteht die zeitgenössische Kunst aus Ideen. Das zeigen auch Harald Falckenbergs Neuerwerbungen, die in Harburg zu sehen sind.
„Die hässliche Luise“ sollte ein bisschen mehr nach Kunstwerk aussehen. Deshalb hat ihr der Deichtorhallen-Direktor Dirk Luckow zwei virile Bauarbeiterporträts von Monica Bonvicini zur Seite gestellt. „Die hässliche Luise“ ist nämlich ein hellgelb gekachelter, ehemaliger Sanitärraum ohne Innenleben, nur die nackten Betonwände mit Decke stehen da. Ausgedient. Das Kunstwerk von Manfred Pernice ist schon länger im Besitz des Sammlers Harald Falckenberg, im Gegensatz zu den allermeisten Werken, die jetzt in den Harburger Phoenixhallen brandneu zu sehen sind.
„Selbstjustiz durch Fehleinkäufe“ lautet der Titel der Ausstellung und geht zurück auf ein Gemälde, hinter dem Falckenberg lange her war: eine dilettantisch hingepinselte nackte Frau mit zwei Einkaufstüten in den Händen. Sie scheint etwas durcheinander zu sein, und trotzdem hat sie offenbar einen Kaufentschluss gefasst. Mit ihr hat der Sammler also einiges gemeinsam. Falckenberg hat Kippenberger von Anfang an gesammelt, als einen jener Spaßvögel, die der ansonsten seriöser gewordenen Kollektion noch jenen Anflug von revoltierender Hanswurstiade verleiht, die früher mehr Gewicht hatte.
Die neue Ausstellung der Deichtorhallen, kuratiert von Harald Falckenberg, Dirk Luckow und dem Sammlungshüter Uwe Lewitzky, präsentiert die Neuerwerbungen, die das Profil der Sammlung seit 1994 erweitert haben, durch mehr Konzeptkunst und eine Reihe interessanter Serien innovativer Fotografen. Zu denen gehört Jerry Berndt mit seinen balladenhaften Nachtszenen, eine medienkritische Serie des großen Lee Friedlaender, Lewis Baltz’ Blick auf erodierte, zubetonierte Reallandschaften. Zum Glück hat das mit den Hanswurstiaden nicht ganz aufgehört. Dann hätte man nämlich nicht mehr viel zu lachen. Und eines muss man schon sagen: Die Künstler der 1960er/70er waren freier, experimenteller und extremer als heute, weshalb der Sammler auch aus dieser Zeit dazugekauft hat.
In seinen fotografisch dokumentierten Performances hat zum Beispiel Jürgen Klauke 1976 die Sexualmoral der katholischen Kirche in einer fröhlich-drastischen Travestie auseinandergenommen – mit sich selbst als Hauptdarsteller in Tüll-BH und Bischofsornat. Die Verkleidungsszenarien mit dem notorischen Eimer auf dem Kopf von Thorsten Brinkmann nehmen sich im Vergleich damit und in direkter Nachbarschaft schon sehr blass aus. Dann wiederum hat Falckenberg eine große Serie surrealistisch inspirierter „Cadavres Exquis“ der Künstlerbrüder Jake und Dinos Chapman gekauft, lauter deformierte Kerle, voller Gewucher in den Eingeweiden, mit verzerrten Köpfen.
Und immer wieder findet man in dieser Sammlung Werke, die da eigentlich nicht ganz hineinpassen. Eine aus Holzlatten und Figurenfragmenten zusammengezimmerte mythologische Arbeit von Mimmo Paladino zum Beispiel. Der Sammler hat sie trotzdem gekauft, was für seine Leidenschaft spricht und für Qualitätsmaßstäbe. Und irgendwann, wenn man die Schau lange genug auf sich wirken lässt, passen sie eben doch irgendwie hinein.
Ohne Führung kann man die Sammlung nicht besuchen, und das ist gut so. Denn andernfalls würde sich höchstens die Hälfte dessen erschließen, was an Gedanken, Konzepten und Ideen dahintersteht. Das Image seiner Sammlung als „Spielwiese für rebellische, sarkastische und zynisch-witzig garnierte Kunst“ bekämpfe er seit 2008, sagt Falckenberg: „Der Aufstand der Moderne gegen die traditionelle Repräsentationskunst des Guten, Schönen und Wahren hat sich seit den 50er- und 60er-Jahren in Etappen vollzogen. Minimal und Pop Art folgte Ende der 60er-Jahre die Konzeptkunst. Ihr ging es, oft genug politisch aufgeladen, um die Verabschiedung und Entmaterialisierung von Kunstwerken. Allein das Konzept zählt...“
In der Eingangshalle hängt eine große fotografische Arbeit von John Baldessari, die an die Novemberpogrome 1938 in Graz erinnert. Daneben hat Baldessari das Bild einer gotischen Zwillingswendeltreppe gesetzt – als Zeichen der Widersprüchlichkeit einer europäischen Kultur zwischen Barbarei und Göttlichkeit. Ganz hinten kann man dann in der posthum zusammengestellten Lieblings-Bibliothek von Mike Kelley stöbern, die ein bisschen auch für die Vielschichtigkeit dieser Ausstellung stehen könnte, denn hier findet man die Bibel neben einem Buch über Cindy Sherman und „Sex notices“, darüber Dostojewski und Foucault. Friedliche Koexistenz? Oder Auftakt zur nächsten Schlacht?
Die Stirnseiten des ersten Stocks markieren so etwas wie Meilensteine: Am einen Ende hängt eine frisch von Christian Jankowski angekaufte Film-Arbeit, die den 25. Jahrestag des Mauerfalls mit dem 25. Geburtstag der Deichtorhallen verbindet, am anderen Ende ein ganz früher Ankauf des New Yorker Malers Bill Beckley von 1982. Dieses mit Worten spielende Gemälde wirkt noch heute taufrisch, unter anderem, weil es die pure Malerei und das Material, auf dem sie liegt, aufgebrochen und umsortiert hat.
„Selbstjustiz durch Fehleinkäufe.“ Bis 25. Mai. Wilstorfer Str. 71, Harburg. Anmeldung: www.deichtorhallen.de/Buchung