Nach mehr als 80 Jahren kehrt Puccinis Oper „La fanciulla del West“ in einer durchweg überzeugenden Inszenierung an die Staatsoper zurück.
Hamburg. Cell phone parents nennt man sie heute: Menschen, die aus schierer Not Ecuador oder Moldawien verlassen, um in den Industrieländern ihr Glück zu suchen, und mit ihren Kindern fortan nur noch Telefonbeziehungen führen. Welchen seelischen Schaden jahrelange Trennungen in den Familien anrichten, wird kaum je zum Thema.
Der Regisseur Vincent Boussard rückt das Leid des Entwurzeltseins bei seiner Lesart von Puccinis „La fanciulla del West“, die gerade an der Staatsoper Premiere feierte, ins Zentrum. Die Oper spielt in einem Goldgräbernest im tiefsten kalifornischen Wald Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Männer hat es aus Cornwall, Spanien oder Australien dorthin verschlagen. Sie bilden dort eine wüste Gesellschaft mit brutalen Regeln, in Schach gehalten vom korrupten Sheriff Jack Rance und liebevoll betreut von der Titelfigur Minnie, ihres Zeichens Wirtin des Saloons „La Polka“.
Dutzende von Männern und eine junge Frau
Dutzende von Männern und eine junge Frau? Da muss es ja krachen , spätestens als Minnie sich in einen ihrer Gäste verliebt. Boussard und seine Mitstreiter Vincent Lemaire (Bühnenbild) und Christian Lacroix (Kostüme) haben die Geschichte in eine zeitlose Form gegossen, die dem Betrachter das Elend der Männer näherbringt, als es ein Kostümschinken mit Pferden und Pulvergeruch täte. Wie leichthin balanciert die Inszenierung das knirschend Konkrete der Handlung und die raren Momente der Poesie aus und wird der Musik Puccinis so beglückend gerecht wie die Philharmoniker Hamburg unter Carlo Montanaro und die durchwegs erfreuliche Sängerbesetzung. Nur der Männerchor muss sich anfangs noch finden.
Geschickt löst Boussard die Schwachstellen des Librettos auf. Dass Puccini erstmal seelenruhig das soziale Tableau entfaltet, könnte leicht statisch wirken, doch Boussard führt die sich wandelnde Stimmung der Goldgräber in deren Körpersprache vor: Beim ersten Whiskey zappeln sie hyperaktiv, ihre Konflikte führen sie mit Händen und Füßen – doch als Minnie endlich erscheint, kuscheln sie sich hin wie Kätzchen, um die Bibelstunde zu hören.
Wie die „Madama Butterfly“, die die Regie-Trias zuletzt in Hamburg auf die Bühne brachte, lädt die „Fanciulla“ eher zum Nachdenken ein, als dass sie überwältigen würde. Der lange Stahlträger, der als Tresen den Bühnenvordergrund abriegelt, könnte auch dazu dienen, die versammelten Raubeine unter Kontrolle zu halten. Lacroix kleidet die Goldgräber nicht historisierend, sondern in Trenchcoats und Kapuzenjacken. Farben setzen Lemaire und Lacroix wohldosiert ein; so ist der gesamte erste Akt in die erdigen Grüntöne des kalifornischen Dschungel getaucht.
Die Naturgewalten führen ein Eigenleben in dieser Oper. Den ersten Kuss zwischen Minnie und ihrem Geliebten Johnson begleitet ein im Orchester raffiniert ausgemaltes Wintergewitter. Überhaupt die Bildhaftigkeit der Musik! Luxuriös leuchtender Streicherklang illustriert den Überschwang der Gefühle. Dann wieder knallen Pistolenschüsse oder saust der Sturm, und wenn Minnie mit dem Sheriff um das Leben ihres Geliebten pokert, hört man nur noch die Kontrabässe pianissimo pulsieren wie rasenden Herzschlag.
Minnie gewinnt – dank Falschspiel
Minnie gewinnt – dank Falschspiel. Und kostet ihren Triumph mit diabolischer Freude aus. Wer ist diese Heilige in der Goldgrube? Eine junge Frau soll Minnie sein, von allen geliebt – und doch eine gewisse Schwere und Härte in der Stimme und ein Stehvermögen haben, für die man als Sopranistin ein paar Dienstjahre braucht und ein paar Reservekilos auf den Rippen. Die Amerikanerin Emily Magee ist der strapaziösen Partie mühelos gewachsen, trumpft mal schnippisch auf und verkörpert ebenso glaubwürdig Minnies Verzweiflung, als die vom Sheriff von Johnsons kriminellem Vorleben erfährt. Ihr differenziertes Rollenporträt gleicht die schwache Plausibilität der Figur aus. Und auch Minnies Selbstzweifel bekommen Raum. Womöglich liegt in ihnen der Kern zu ihrer Bindung an den Waschlappen Johnson: Von ihm fühlt sie sich gesehen. Dem glaubt man nämlich ansonsten weder den Räuber noch den feurigen Liebhaber. Carlo Ventre spielte ihn am Premierenabend mit dem Hauch Zurückhaltung, den ihm offenbar seine abklingende Erkältung auferlegte – der aber zu diesem Weichei bestens passte. Und einige großartig gestaltete, üppig gerundete Phrasen ließen ahnen, was von seinem Tenor in den kommenden Vorstellungen zu hören sein könnte.
Gerade diese Widersprüchlichkeit lässt die Figuren lebendig werden. Andrzej Dobber spielt den Sheriff mit seinem klaren, agilen Bariton zwar als intriganten Macho, zeigt aber auch die Melancholie des abgewiesenen Verehrers. Minnie glaubt nur zu gern, dass Johnson aus Versehen zum Banditen geworden sei. Nachfragen? Lieber nicht. Die Abgründe in dieser Beziehung sind deutlich zu ahnen. Es ist kein Zufall, dass das Liebespaar für seinen Schlussgesang in den Hintergrund tritt. Zu sehen sind nur noch die Goldgräber: Zurückgebliebene, Verlassene, Ortlose.
Nächste Vorstellungen: 4. und 7. Februar, jeweils 19.30 Uhr. Kartentelefon 35 68 68