Die umfangreich dokumentierten Ergebnisse der Expedition des Völkerkundemuseums von 1910 wirken bis heute nach. Ein Hamburger Forscher hat besonders viel Eindruck in der Südsee hinterlassen.
Hamburg. Als sich der aus Limburg stammende Geschäftsmann Thomas W. Schubert 1992 in dem Südsee-Staat Palau niederließ, um dort eine Textil-Importfirma zu gründen, wurde er von den Einheimischen immer wieder auf die deutsche Kolonialgeschichte angesprochen. „Der Kaiser ist ein guter Mann, und er lebt in Berlin“, sagte ihm ein alter Häuptling, der diesen Spruch als Kind in der deutschen Schule gelernt hatte. Aber mehr noch als für den Kaiser interessierten sich die Einheimischen für einen Mann, dessen Namen Schubert nie zuvor gehört hatte. Voller Bewunderung sprachen nicht nur alte Menschen, sondern auch Geschäftsleute, Regierungsbeamte und Lehrer von Augustin Krämer (1865–1941), einem Forscher, der Anfang des 20. Jahrhunderts im Auftrag des Hamburger Völkerkundemuseums und der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung auf die Inseln gekommen war.
Von 1909 bis 1910 leitete er die Hamburger Südsee-Expedition, die von Georg Thilenius, dem Gründungsdirektor des Völkerkundemuseums, geplant und koordiniert worden war. „Immer wieder legten mir Menschen Fotokopien aus den Berichtsbänden von Krämer vor und baten mich, den deutschen Text zu übersetzen, da sie ihren Familien- oder Clan-Namen oder den Namen ihres Dorfes entdeckt hatten“, erinnert sich Thomas Schubert, der kurz vor Weihnachten Hamburg besucht hat, um den Wissenschaftlern des Museums für Völkerkunde über ein groß angelegtes Kooperationsprojekt zu berichten.
In dem Museumsgebäude an der Rothenbaumchaussee liegen nämlich Schätze, die nicht nur für die Kultur und Geschichte, sondern zum Beispiel auch für die Rechtspflege des 11.500 Kilometer entfernten Pazifik-Staates von grundlegender Bedeutung sind. In weit mehr als 20 Bänden wurden die Forschungsergebnisse der Expedition zusammengefasst und zwischen 1914 und 1954 veröffentlicht. Allein fünf dieser Bände, für die Augustin Krämer verantwortlich zeichnete, beschreiben die Palauinseln, die zur westlichen Gruppe der Karolinen gehören und von 1899 bis 1914 Teil von Deutsch-Neuguinea waren. Stundenlang hat Schubert sich jetzt von der Südsee-Kuratorin Jeanette Kokott das Originalmaterial der Expedition zeigen lassen, darunter Hunderte von Glasplatten mit Fotos, die 1909/10 in Palau entstanden sind. Eines davon zeigt Elisabeth Krämer-Bannow (1874–1945), die Frau des Expeditionsleiters, wie sie unter einem Sonnenschirm in Palau zeichnet.
Auch die Häuptlinge werden in Palau von Frauen gewählt
Beim gemeinsamen Essen im Museumsrestaurant, an dem auch Ekkehard Nümann und Johannes Gerhard von der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung teilnehmen, erzählt Schubert, welche Bedeutung gerade Elisabeth Krämer für den Erfolg der Expedition hatte. „Sie war die erste Frau, die an einer deutschen wissenschaftlichen Expedition als Vollmitglied teilnehmen konnte. Da in Palau traditionell die Matrilinearität gilt, also über die weibliche Linie vererbt wird, vertrauten die Frauen der deutschen Forscherin Dinge an, die sie Männern nie erzählt hätten. Auch die Häuptlinge werden in Palau von Frauen gewählt. Für Elisabeth Krämer-Bannow, der damals in Deutschland als Frau das Wahlrecht noch verweigert wurde, dürften das erstaunliche Tatsachen gewesen sein“, sagt Schubert, der sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit der Geschichte der Hamburger Südsee-Expedition beschäftigt hat.
Für den Staat Palau, der nur etwas mehr als 21.000 Einwohner hat und erst 1994 seine Unabhängigkeit erhielt, sind die fünf Hamburger „Krämer-Bände“ das wichtigste Geschichtsdokument. Gerade weil der Forscher so akribisch und unvoreingenommen beobachtet und dokumentiert hat, genießen die Expeditionsberichte allerhöchste Autorität. „Wenn jemand aufgrund der Notizen von Augustin Krämer nachweisen kann, dass ein bestimmtes Landstück zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Besitz seines Clans war, kann er den Besitzanspruch vor Gericht durchsetzen“, sagt Schubert, und fügt hinzu: „Aber es geht nicht nur um juristische Fragen, denn Augustin Krämer beschreibt zahlreiche Aspekte des Lebens, von Handwerkstechniken über Riten bis hin bis zu topografischen Beschreibungen. So lassen sich aufgrund seiner Beobachtungen und Skizzen Spuren früherer Besiedlungen und längst vergessene Pfade im Dschungel wiederfinden. Es ist fast so, als ob dieser deutsche Forscher die heutigen Bewohner von Palau an die Hand nimmt und sie durch ihr Land und dessen Geschichte führt.“
Das aber funktioniert nur, wenn die Sprachbarriere überwunden wird, denn in der Inselrepublik wird Palauisch und Englisch gesprochen, die Krämer-Bände sind jedoch in Deutsch geschrieben. Außerdem ist Krämers akademischer Stil nicht leicht zugänglich, einzelne Abschnitte lassen sich nur schwer übersetzen, weil es in den Texten zahlreiche Bezüge und Querverweise auf Abhandlungen in anderen Bänden gibt. Deshalb gibt es schon seit Jahren Bemühungen, die Expeditionsberichte ins Englische übersetzen zu lassen. Dabei war allen klar, dass dies ein enorm aufwendiges Projekt sein würde, pro Band prognostizierte man Kosten von bis zu 19.000 US-Dollar. Vor allem die Ethnologin Faustina Rehurer-Marugg, die früher das Nationalmuseum leitete und heute Kulturministerin ihres Landes ist, betonte immer wieder, wie wichtig eine wissenschaftliche Übersetzung wäre.
Nachdem der damalige Bundespräsident Köhler im Jahr 2007 Thomas W. Schubert zum deutschen Honorarkonsul ernannt hatte, bemühte sich der Geschäftsmann in Absprache mit dem zuständigen deutschen Botschafter in Manila um eine Projektförderung durch das Auswärtige Amt. 2010 bewilligte die Bundesregierung schließlich 48.800 Euro für die Übersetzung der Krämer-Bände und deren Veröffentlichung in digitaler Form. Daraufhin wurde ein Übersetzungskomitee, dem Ethnologen, Linguisten und als Muttersprachler auch Thomas Schubert angehörten, gebildet.
Im März 2014, nachdem die Arbeit getan war, konnte der deutsche Botschafter auf den Philippinen die fünf CDs mit der englischen Textversion der von der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung veröffentlichten „Ergebnisse der Südsee-Expedition“ in einem feierlichen Akt dem Präsidenten von Palau überreichen. Das war ein Ereignis, das im Land auf enormes Interesse stieß. „Der Text ist jetzt jedermann zugänglich, er kann über die Homepages des Nationalmuseums und des privaten Etpison Museums heruntergeladen werden, soll aber im kommenden Jahr auch als Buchausgabe erscheinen. Die fünfbändige Edition wird dann in allen Bibliotheken, Schulen und öffentlichen Institutionen vorhanden sein“, sagt Schubert, und weist noch auf eine weitere Leistung von Augustin Krämer hin, die mit gut 100-jähriger Verspätung jetzt neue Früchte trägt: In den Krämer-Bänden finden sich etwa 300 vergessene Wörter aus der palauischen Sprache, die während der japanischen Besetzungszeit (1917 bis 1942) unterdrückt worden war. Jetzt werden diese Wörter in eine Neuausgabe des Palau-Dictionary aufgenommen.
Und auch Elisabeth Krämer soll 2015 im fernen Palau zu neuen Ehren kommen: Auf Wunsch des Präsidenten plant die dortige Post eine Briefmarkenserie mit jenen Motiven, die die Forscherin während der Hamburger Südsee-Expedition gemalt hat – und deren kostbare Originale im Museum an der Rothenbaumchaussee bewahrt werden.