Der Kunsthistoriker Torkild Hinrichsen beobachtet seit Jahrzehnten die Weihnachtsbräuche und deren Wandel. Der ehemalige Direktor des Altonaer Museums erklärt, wie sich das Fest verändert hat.

Das christliche Weihnachten gilt als Fest des Friedens, ist aber zugleich eine familiäre Veranstaltung. Deshalb muss es mit jeder neuen Familiengründung zwangsläufig zur Krise kommen – immer dann, wenn es erstmalig darum geht, aus zwei Familientraditionen eine neue Dramaturgie für die Weihnachtsfeiertage festzulegen. Geht man zur Christvesper in die Kirche? Soll es, wie in der Familie des Mannes, am Heiligabend Würstchen mit Kartoffelsalat geben? Oder Frikadellen, wie es in der Familie der Frau seit eh und je üblich ist? Kommt am ersten Feiertag gefüllte Gans auf den Tisch oder Ente mit Klößen und Rotkohl?

An keinem Tag des Jahres sind Menschen hinsichtlich ihrer Vorlieben so festgelegt und zugleich so konservativ wie zu Weihnachten, meint Torkild Hinrichsen. Seit Jahrzehnten beobachtet der Kunsthistoriker und Volkskundler, der bis zum März 2013 das Altonaer Museum geleitet hat, Weihnachtsbräuche und deren Wandel. Und gewandelt hat sich in diesem Bereich in den letzten Jahrzehnten eine Menge, mancher Weihnachtsbrauch, der früher ganz selbstverständlich war, ist verschwunden oder hat sich völlig verändert. Das ist erstaunlich, denn eigentlich lehnen die meisten Menschen jede Veränderung ihrer gewohnten Weihnachtskultur ab und wünsche sich alles so, wie sie es als Kind selbst erlebt haben.

Noch bis vor etwa 150 Jahren haben zum Beispiel Geschenke auf dem Fest, mit dem jeweils am 25. Dezember die Geburt Christi gefeiert wird, nur eine untergeordnete Rolle gespielt. In Norddeutschland war es bis Mitte des 19. Jahrhunderts nur üblich, dass die Paten ihren Patenkindern kleine Geschenke machten, meistens Gebäck oder einen Apfel, in den ein paar Kupfermünzen gesteckt wurden. Und noch in dem Knecht-Ruprecht-Gedicht, das Theodor Storm 1862 geschrieben hat, werden nur Süßigkeiten als Geschenke erwähnt: „Äpfel, Nuss und Mandelkern haben fromme Kinder gern.“

„Dass Kinder so reich beschenkt werden, geht auf die Spielzeugindustrie zurück“, sagt Hinrichsen. Mit der Massenproduktion von Spielzeug seit etwa 1850 wurden neue Vertriebswege notwendig, was zur Gründung von Spielzeugläden führte, deren prall gefüllte Schaufenster Begehrlichkeiten weckten. Wer sich etwas wünschte, musste Wunschzettel schreiben und diese den dafür zuständigen Personen zukommen lassen, also entweder dem Christkind oder dem Weihnachtsmann.

Die Tradition des Wunschzettels

„Ursprünglich waren Wunschzettel rein ideeller Natur. Zu Weihnachten wünschten die Kinder ihren Eltern Gesundheit und Gottes Segen. Die meist vom Pastor oder Lehrer formulierten Wünsche wurden auf dem Zettel notiert, sollten aber möglichst auswendig aufgesagt werden“, erklärt Torkild Hinrichsen. Den Schritt vom ideellen Wunsch zur „Geschenkbestellung“ förderten Industrie und Handel nach Kräften; so druckte die Firma Hohner schon Ende des 19. Jahrhunderts Wunschzettel, auf denen als Nummer eins eine Mundharmonika aufgeführt war, drei oder vier weitere Positionen konnten individuell hinzugefügt werden.

Bis heute werden Tausende Briefe an den Weihnachtsmann geschickt, die dann in einem der neun von der Deutschen Post betriebenen Weihnachtspostämter landen und von eigens eingestellten Mitarbeitern beantwortet werden. Diese saisonalen Dienststellen befinden sich in Orten mit Namen wie Engelskirchen (NRW), Himmelsberg (Thüringen), Himmelpforten oder Nikolausdorf (beides Niedersachsen).

Die Konkurrenz zwischen Christkind, Nikolaus und Weihnachtsmann hat letzterer inzwischen eindeutig für sich entschieden. Die historische Entwicklung verlief folgendermaßen: Der Nikolaus geht auf den gleichnamigen Bischof zurück, der im frühen vierten Jahrhundert in Myra (heute Türkei) wohltätig gewirkt haben soll und heilig gesprochen wurde. Um der Heiligenverkehrung entgegenzutreten, brachte Martin Luther in der Reformationszeit das Christkind in Stellung, das fortan in protestantischen Ländern für kleine Geschenke zuständig war. Der Weihnachtsmann ist dagegen deutlich jünger, in Deutschland wurde er ab etwa 1835 populär, als Heinrich Hoffmann von Fallersleben das Lied „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ schrieb.

Der heutige Weihnachtsmann entwickelte sich aus dieser Frühform sowie den Figuren des Nikolaus und des niederländischen Sinterklaas, die die Auswanderer in die USA mitbrachten, wo sie sich in den übergewichtigen Mann mit stets rotem Mantel, weißem Bart und gut gefülltem Rucksack verwandelten. Das rote Outfit wurde zwar nicht von Coca Cola erfunden, doch hat der Getränkekonzern durch seine Werbekampagnen unsere Vorstellung vom Weihnachtsmann erheblich geprägt. Aus den USA kehrte der Weihnachtsmann Anfang des 20. Jahrhunderts in die Alte Welt zurück, um seinen beispiellosen Siegeszug anzutreten. Den Nikolaus gibt es zwar immer noch, doch ist er weit abgeschlagen und darf nur noch am 6. Dezember Kleinigkeiten in gut geputzte Kinderschuhe stecken.

Der Wandel des Weihnachtsmannes

„Der Weihnachtsmann hat bis jetzt jeden gesellschaftlichen Wandel bestens überstanden, sich allerdings selbst auch stark verändert“, meint Torkild Hinrichsen und erzählt, dass der Mann im roten Mantel einen Teil seiner traditionellen Aufgaben heute sträflich vernachlässigt. „Früher hatten Kinder vor dem Weihnachtsmann Respekt, wenn nicht gar Angst, denn zunächst erkundigte er sich als eine Art Gerichtsinstanz nach deren Verhalten.“ Missetaten wurden gerügt und – mehr oder weniger symbolisch – bestraft, Geschenke gab es nur für Wohlverhalten oder wenigstens als Ansporn für eine ehrliche Läuterung. Dass der Weihnachtsmann heute nur noch gut gelaunt durch Shoppingcenter und Weihnachtsmärkte schlendert und auch bei Hausbesuchen kaum gefürchtet wird, ist vermutlich ein Resultat der 68er-Bewegung, die jede Form der Sanktion als „seelische Misshandlung“ ablehnte. Kein Wunder, dass sich schon längst kein Weihnachtsmann mehr mit der früher unverzichtbaren Rute auf die Straße traut.

Das Christkind spielt im weihnachtlichen Brauchtum schon seit den 1930er-Jahren in Norddeutschland kaum noch eine Rolle. Das erklärt Hinrichsen zum Teil auch aus der NS-Zeit, in der der Weihnachtsmann gegenüber dem Christkind gefördert wurde, weil er eben nicht mehr eindeutig christlich bestimmt war. Eine andere christliche Tradition ist dagegen bis heute sehr lebendig geblieben, nämlich die Weihnachtskrippe. Das Figurenensemble, das mit der Heiligen Familie, Ochs und Esel, Hirten und Schafen, den drei Königen und ihren Kamelen die Weihnachtsgeschichte ebenso volkstümlich wie fantasievoll vor Augen führt, ist in den familiären Weihnachtszimmern ebenso zu finden wie in den Kirchen, aber auch in Einkaufzentren oder auf den Weihnachtsmärkten. Auch das Krippenspiel, das aus den mittelalterlichen Mysterienspielen hervorging, hat sich bis heute bestens behauptet. Nach wie vor wird es in der Christvesper von Kindern aufgeführt, mitunter in Bearbeitungen mit aktuellen Bezügen.

Nach der Beobachtung Torkild Hinrichsens ist die aktive Teilnahme, die hier noch immer praktiziert wird, aber inzwischen eher die Ausnahme. „Kinder tragen zu Weihnachten nur noch selten Gedichte vor. Es wird weniger gebastelt, dafür mehr gekauft. Weihnachtslieder werden nur noch selten gesungen, selbst viele Gottesdienstbesucher stimmen nicht mehr mit ein, sondern betrachten die Musik in der Kirche eher als Aufführung. Auch unter dem Weihnachtsbaum zu Hause, wo man vor zwei Jahrzehnten selbstverständlich sang, hört man Weihnachtsmusik inzwischen von der CD“, sagt Hinrichsen. Nur in Sachen Weihnachtsmann sei auch innerhalb der Familie das Live-Erlebnis unverzichtbar, hier würde ein Video nur als unzureichender Ersatz akzeptiert. Auch wenn es dafür keine Statistiken gibt, stehe der Besuch des Weihnachtsmannes vor allem bei Familien mit kleinen Kindern auch im modernen Informationszeitalter kaum zur Disposition. „Und auch wenn alle Kinder darüber informiert sind, dass es ihn eigentlich gar nicht gibt, wollen viele von ihnen seine Existenz vorsichtshalber doch nicht grundsätzlich ausschließen“, glaubt der Volkskundler beobachtet zu haben.

Hat man den früheren Direktor des Altonaer Museums eigentlich schon einmal auf seine verblüffende Ähnlichkeit angesprochen? Da lächelt Torkild Hinrichsen nachsichtig, winkt ab und sagt: „Selbstverständlich, war ja selbst jahrelang als Weihnachtsmann tätig.“