Mit dem neuen und letzten Album „Gipfelstürmer“ und einer finalen Tournee 2016 will Der Graf die Band Unheilig auflösen. Ein Gespräch zum Abschied über seine Gründe und Evil Jareds Magenprobleme.
Hamburg. Am 5. Oktober wandte sich Unheilig-Sänger Der Graf mit einem offenen Brief an seine Fans und kündigte „Gipfelstürmer“ als sein letztes Album an. Nach einer Tournee mit dem Abschluss am 10. September 2016 im RheinEnergieStadion Köln möchte sich der Rocksänger aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Wir treffen ihn in einem Hamburger Hotel, um nachzuhaken. Und um ihm dieses Gespräch im Falle eines Rücktritts vom Rücktritt genüsslich unter die Nase zu reiben. Aber so wie er sich im knarzenden Ledersessel zurücklehnt, gelöst auflacht und plaudert, meint es der Graf wohl ernst.
Hamburger Abendblatt: Herr Graf, Ihre Alben folgen immer einem bestimmten Motiv. „Große Freiheit“ war maritim, „Lichter der Stadt“ urban. Auf „Gipfelstürmer“ werden nun Abschiede und das Auf und Ab im Leben thematisiert.
Der Graf: Ja, die Lokomotive im Artwork verdeutlicht das. Sie hat die Waggons abgekoppelt und fährt alleine durch eine Bergwelt den vorgeschriebenen Weg nach oben. Und doch weiß man nicht, wohin die Reise weiter geht. Das ist symbolisch für den letzten Schritt. Das ist mein letztes Album.
Ihr offener Brief an die Fans mit der Ankündigung des Endes von Unheilig musste warten, bis das Album fertig war?
Der Graf: Ja. Ich trage den Gedanken des Abschieds seit Jahren in mir. Das war im Frühjahr beim ESC-Vorentscheid schon problematisch. Ich dachte: Probieren wir es noch mal international, aber innerlich war ich schon woanders.
Die Lieder auf „Gipfelstürmer“ gehen wieder sehr Hand in Hand mit den Hörern, mit den Fans. Typisch Unheilig.
Der Graf: Du bist nicht allein, glaub an dich. Das sind diese Mutmacher, die ich mir auch selber immer vor Augen gehalten habe, um meine Angst vor der Öffentlichkeit als Stotterer zu überwinden. Die Musik hat mir Halt gegeben, und ich möchte Halt geben. Und die Menschen finden sich darin wieder und geben es mir zurück.
Und doch wollen Sie der Bühne 2016 den Rücken kehren. Brauchen Sie den Halt durch die Musik nicht mehr?
Der Graf: 2010 kam der Mega-Erfolg, und ich konnte mir alles nach Hause holen: Gold und Platin, Bambi, Echos, Goldene Kamera und wie die Preise alle heißen. Ich habe sie mir hingestellt und gedacht: wie schön. Und dann kommt der Moment, wo das Symbol dieses Erfolgs Einzug hält in dein Privatleben. Gleichzeitig wirst du durch Lieder wie „Geboren um zu Leben“ in Krankenhäuser und Hospize eingeladen und siehst das Leben in einer Form, wie du es noch nie gesehen hast. Wie wichtig Gesundheit und Familie sind. Und da dachte ich nach. Muss ich den nächsten Erfolg, den nächsten Gipfel suchen oder kann ich stolz auf das Erreichte sein und kümmere mich lieber um meine Familie?
Ein letztes Album ist offensichtlich auch eine ideale Gelegenheit, noch mal etwas auszuprobieren. Einige der neuen Lieder wie „Hinunter bis auf Eins“ oder „Wie in guten alten Zeiten“ zum Beispiel klingen sehr nach Sisters Of Mercy.
Der Graf: Es gibt im Musikgeschäft das Prinzip der Schablone. Ist sie bei einem Album erfolgreich, dann verwendest du sie auch für die nächste. Da beginnt der Kampf. Ich wollte wieder einen Schritt zurück in meine Frühzeit machen, zu Sisters Of Mercy und Depeche Mode. Ich wollte keine Kopie von „Große Freiheit“ und „Lichter der Stadt“. Kein Mensch braucht ein zweites „Geboren um zu Leben“. Davon habe ich mich gelöst. Mit drei Jahren Zeit und ohne Veröffentlichungsdatum konnte ich alle so lange quälen, bis ich sagen konnte: So ist es geil.
„Lichter der Stadt“ hat einen mit Hans-Zimmer-Bombast überfahren, „Gipfelstürmer“ wirkt – für ein Unheilig-Album zumindest – reduzierter.
Der Graf: Ecken und Kanten. Das ist kein Spruch. „Zeit zu gehen“ als Single zu veröffentlichen, ist eigentlich völlig gaga, weil das Lied überhaupt nicht in gängige Songschemata passt.
In Ihrem offenen Brief haben Sie augenzwinkernd geschrieben: „Du musst aufhören, wenn es am schönsten ist“. Eine Floskel, die gut zu denen im Lied „Weisheiten des Lebens“ passt. Eile mit Weile, jeder ist seines Glückes Schmied...
Der Graf: Der Klügere gibt nach, in der Ruhe liegt die Kraft. Scherben bringen Glück (es geht so eine Minute weiter)... Als kleiner Junge habe ich diese Sprüche gehasst. Indianerherz kennt keinen Schmerz. Aber wenn ich heute Kindern die Welt erkläre, hole ich diese ollen Dinger selber wieder raus. Es ist eine Hommage an die eigene Jugend. Und mein erstes Kinderlied für Erwachsene.
Waren Sie schockiert, was Ihre Abschiedsnachricht bei den Fans ausgelöst hat?
Der Graf: Nein. Ich fand es schön zu lesen, wie traurig die Menschen sind und sich dennoch bedankt haben. Da ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Dass es sogar bei n-tv unten im Nachrichtenband lief, war natürlich grotesk. Und wie sich andere mit dem Holzhammer über die Trauer der Fans lustig gemacht haben, das fand ich respektlos.
Wie Evil Jared, der in der Fernsehshow „Circus HalliGalli“ auf Ihren offenen Brief gereiert hat.
Der Graf: Vielleicht hat er auch nur etwas Schlechtes gegessen. Der futtert ja alles. Ich komme damit klar, aber es gibt eben Menschen, die können damit nicht so lässig umgehen, und um die tut es mir leid.
War der Brief nur ein PR-Gag, wie nicht wenige Kritiker vermuten?
Der Graf: Nein. Wie feige wäre ich, wenn ich nach einer Tour sage: So, ich bin dann mal weg. Ohne den Fans eine Möglichkeit des Abschieds zu geben? Das ist auch im Leben so, dass es zumindest die Option geben sollte, Adieu zu sagen. Ein guter Freund ist dieses Jahr tödlich verunglückt, und ich wusste nicht mehr, wann ich ihn das letzte Mal gesprochen habe.
Was werden Sie vermissen nach der Tour? Sagen Sie jetzt nicht: nichts.
Der Graf: Es gibt keinen Plan. Das ist der Plan. Ich werde weiterhin das Leben in meinen Liedern erklären, aber nicht mehr als Der Graf. Sie werden sicher den Weg zu dem einen oder anderen Künstler finden, ich habe jetzt schon für andere geschrieben. Ich gehe nicht in Rente, ich werde weiterhin Musik machen. Aber ich weiß nicht, was ich vermissen werde.
Was halten Sie von Howard Carpendale, Marius Müller-Westernhagen oder den Scorpions, die irgendwann doch den Rücktritt vom Rücktritt erklärt haben?
Der Graf: Wenn du sagst, dass du gehst, dann musst du auch gehen. Und das machen wir. Das Abschiedskonzert am 10.September 2016 in Köln wird das längste meines Lebens sein. Dann gehe ich von der Bühne, rasiere mir den Bart ab und werde danach nicht mehr in der Öffentlichkeit auftauchen.
Es wird keinen anonymen Auftritt in einer Bar vor drei Zuhörern geben, mit einem Glas Whiskey in der Hand, einer Zigarette und „My Way“?
Der Graf: (lacht) Wenn keine Kamera dabei ist... wer weiß?
Unheilig: „Gipfelstürmer“ Album (Vertigo/Universal) ab 12.12. im Handel; www.unheilig.com