Überzeugende Inszenierung, achtbare musikalische Leistung: Die Staatsoper bringt Verdis „Luisa Miller“ heraus
Hamburg. Das Wort „tragisch“ ist schnell bei der Hand in der Alltagssprache. Es ist zu einem Synonym für das Unfassbare geworden, insbesondere für tödliche Unfälle. Dabei geht allerdings etwas Wesentliches an der Tragödie verloren, nämlich dass der Betroffene sich in eine ausweglose Situation dadurch bringt, dass er sich herausnimmt, gegen seine Bestimmung zu handeln.
Auf der Bühne der Staatsoper ist diese Unentrinnbarkeit in Bilder übersetzt. Verdis „Luisa Miller“, die am Sonntag Premiere hatte, findet in Guckkästen statt, die am Betrachter vorbeiziehen, ohne seinen Blick je zu entlassen. Wände in zartgesprenkeltem Grau allenthalben, hin und wieder ein Möbelstück, das war’s. Während der Ouvertüre führt der Regisseur Andreas Homoki in vier Momentaufnahmen in das Drama ein, das sich in den folgenden drei Akten mit der Zwangsläufigkeit einer Rechenaufgabe entrollen wird – und gibt gleich zu Beginn seine Visitenkarte ab in Sachen präziser, in jeder Bewegung am Gestus der Musik orientierter Personenführung. Ein junger Mann mit Sturm- und Drang-Frisur im Gehrock belebt als Einziger die Gesellschaft, die da schön statuarisch und ganz in weißen Rokokokostümen Modell zu sitzen scheint. Ein Vater und seine Tochter, ersichtlich keine Angehörigen der Hofgesellschaft, bekommen Besuch von ebenjenem jungen Mann, er nimmt das Mädchen mit, und dem Vater bleibt der Arm mit dem Buch, das er ihr mitgeben wollte, in der Luft stehen. Es folgt eine Liebesszene, unheildrohend von der Seite beleuchtet, und dann öffnet auch noch ein finster dreinschauender Beobachter die Tür. Im vierten Bild wiederum küsst der junge Mann im Beisein seines adligen Vaters einer mindestens ebenso adligen Dame die Hand.
Auf so einen Comic-Strip muss man die Ausgangskonstellation von Schillers „Kabale und Liebe“ erst einmal eindampfen. Was Homoki aus der Vorlage für Salvatore Cammaranos Libretto an politischem Furor herausschält, trägt in seiner Stringenz die gesamte Produktion. In Paul Zollers schlichtem Bühnenbild und den so eleganten wie beredten Kostümen von Gideon Davey zahlt jedes Detail auf die Katastrophe ein, in die die Beteiligten ohne Umschweife hineinschlittern.
Aber wer liebt hier eigentlich wen? Verdi rückt nicht nur das junge Paar in den Mittelpunkt, sondern ebenso die Unverbrüchlichkeit der Liebe zwischen Luisa und ihrem Vater, einem alten Soldaten. Wenige Takte nur hat Nino Machaidze als Luisa, um ihre Liebe zum vermeintlichen Jäger Carlo begreiflich zu machen. Sie könne sich nicht über ihren Geburtstag freuen, solange Carlo noch nicht da sei, gesteht sie dem alten Miller – doch im nächsten Moment, wenn die Bedrohung hereinbricht, gehört solche Naivität schon der Vergangenheit an.
So geht eben Verdi’sches Theater: Sei’s drum mit der Motivation, Hauptsache Drama. Für Machaidze geht das womöglich ein bisschen sehr fix. Jedenfalls passt die metallische Schärfe ihres Timbres nicht zu dem schwärmerischen jungen Mädchen, das sie im ersten Akt darzustellen hat. Aber wie Luisa unter dem Druck der Ereignisse gleichsam im Schnelldurchlauf zur verantwortungsbewussten Frau reift, so findet Machaidze ab dem zweiten Akt zu einem differenzierteren, dramatischer grundierten Klang, wenn auch nicht zu einer restlos sicheren Intonation. Wenn sie ihrem Vater die Tränen abwischt und für ihn auf die Süße des Selbstmords verzichtet, dann grüßt aus den scheinbar so heiteren Koloraturen eine andere große Leidende Verdis herüber, die Leonora aus dem „Troubadour“. Und George Petean als Miller adelt den Moment zu einer der ergreifendsten Szenen des Abends.
Luisa, ihr Vater und Carlo alias Rodolfo von Walter sind Opfer der gesellschaftlichen Rigidität des 18. Jahrhunderts – zuallererst aber einer handfesten Intrige. Der alte Graf von Walter möchte seinen Sohn, eben jenen Rodolfo, standesgemäß verheiraten und scheut keine Schliche, um das durchzusetzen. Miller lässt er kurzerhand verhaften, woraufhin der Drahtzieher Wurm, mit heuchlerisch-heller Stimmfarbe verkörpert von Oliver Zwarg, Luisa beim Leben ihres Vaters erpresst, brieflich zu erklären, sie habe Rodolfo nie geliebt.
Nicht einmal der aufmüpfige Rodolfo käme auf den Gedanken, am Wahrheitsgehalt des Briefs zu zweifeln. Ivan Magrì spielt ihn mit einer Unbedingtheit, die ihn an den Rand des Wahnsinns treibt. Magrì hat in der Mittellage öfters Schwierigkeiten, die Stimme zu fokussieren; in der Höhe singt er sich zusehends frei.
Simone Young hält die Fäden fest in der Hand. Nur selten klappert es mal zwischen Bühne und Graben, dafür geraten die Verdi-typischen Rubati mitunter etwas hüftsteif. Doch entlockt Young den Philharmonikern Hamburg manch raffinierten Klangeffekt, von gefrierenden Streichertremoli bis zu blühenden Holzbläserklängen. Das Orchester ist den Figuren in ihren Seelenqualen ganz nahe, besonders die Soloklarinette scheint Luisa direkt zu antworten. Und der Chor, der doch in Homokis Lesart gesellschaftlich auf der anderen Seite steht, kommentiert das Geschehen so teilnahmsvoll wie rhythmisch zuverlässig. Wie es um den Adel bestellt ist, das kommentieren Homoki und Davey en passant: Seine Eleganz wird im Laufe des Stücks gerupft. Nach und nach fehlt hier eine Perücke und dort ein Überrock. Und auf dem Dachboden wartet eine Art Bausatz, aus dem am Ende eine Guillotine wird.
Als die Liebenden die Fäden der Intrige entwirren, haben sie das Gift schon getrunken. Ohnehin kann aber erst der bevorstehende Tod Luisa von dem Eid entbinden, den sie Wurm geleistet hat: Sie werde behaupten, den Brief freiwillig geschrieben zu haben.
Was geht uns dieses Zugrundegehen an der Zwangsläufigkeit der Umstände heute noch an? Schriftliche Erklärungen und Schwüre sind aus der Mode geraten. Der moderne Mensch kann sein Leben ändern, gestalten, korrigieren. Denkt er jedenfalls. Es spricht für die Zeitlosigkeit dieser „Luisa Miller“, dass die Konflikte, die sie verhandelt, nach wie vor eine solch bezwingende Kraft entfalten.
Die nächsten Vorstellungen: 19., 22., 25.11., jeweils 19.30, Staatsoper. Kartentelefon 35 68 68