Hamburg. „Alles verstehen heißt alles verzeihen“, weiß der Volksmund. Doch um verstehen zu können, braucht es oftmals länger als ein Menschenleben. Die neueste Ausgabe der Reihe „Black Box 20_21“ in der Opera stabile schafft es in 90 hoch konzentrierten Theaterminuten.

Wie fadenscheinig die juristische Trennwand zwischen Täter und Opfer sein kann, werden die Augen- und Ohrenzeugen der literarisch-musikalischen Collage „Die Verzeihung“ alsbald gewahr: Der Sichtschutz zwischen den simulierten Zellenhälften hebt ab, die Perkussionistin trommelt auf den umgedrehten Klo-Eimern zum Verhör, während die hysterisch anklagende Sopranistin die Tatbeteiligten (und am Ende sich selbst) in ein unentwirrbares Rollenknäuel verwickelt.

Statt zu lamentieren, weil ihm die Ausbeute von Jean Genets Erstlingsroman verwehrt wurde, überkam Francis Hüsers die Lust zu fabulieren. Um sein Inszenierungskonzept zu retten, versenkte sich der Operndirektor in „mehr oder minder offensiv schwule“ Erzähltexte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts – darunter Romane der Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn und Hubert Fichte –, die ihn zu eigenen Dialog-Szenen anregten. Auf drei Schauspieler verteilt, weiteten sie den homoerotischen, um Begehren und Verbrechen, Strafen und Verzeihen, Identität und Anderssein kreisenden Motivhorizont des Abends beträchtlich.

Die sukzessiv eingeblendete Gesangsszene „Pasolini in Ostia“ des Frankfurter Komponisten Rolf Riehm – nicht zu verwechseln mit dem Karlsruher Wolfgang Rihm – stützt sich auf einen Polizeibericht über die Ermordung des Literaten und Filmregisseurs Pasolini am römischen Badestrand, versetzt mit Anspielungen auf Bachs Matthäuspassion. Dagegen führt die frühe, erlösungssüchtige Vokalfantasie „Ojikawa“ des Frankokanadiers Claude Vivier in eine changierend zwielichtige Traumsphäre, die einen französischen Psalmtext umschwebt.

Ohne den schwebend-rituellen Charakter, den Kammersängerin Hellen Kwon der abenteuerlichen Sopranpartie anzauberte, wäre diese späte Uraufführung wohl Stückwerk geblieben. Die lockere Art, mit der Sheida Damghani die Koloratur-Akrobatik in Riehms „Mikro-Oratorium“ stemmte, darf man gar als künstlerischen Durchbruch verbuchen.

Weitere Aufführungen am 30.10., 20.00 und 1.11., 21.30, Opera stabile, Karten unter T. 35 68 68