Teil 3: Russland. Menschen aus den verschiedensten Kulturen leben schon lange in Hamburg. In der Serie „Weltreise durch Hamburg“ stellt das Abendblatt einige der Kulturen und ihre Menschen vor.
Das Metropolis Kino ist voll. Mehr jüngere Leute als sonst sind dort, gebildet und gut angezogen. Wer ihnen zuhören will, versteht nichts, denn die meisten sprechen Russisch. Das liegt an dem Film, der gezeigt wird: „Wyssozki“. Der sowjetische Barde hatte eine tiefe, durchgeräucherte Stimme, mit der er seine Gedichte mehr hervorstieß, als sie zu singen. Wyssozki war ein Held, schrieb störrische, kritische Lieder und starb jung. Darum strahlt das Kino an diesem Abend so eine feierliche Stimmung aus. Russen lieben Künstler. Und auch wenn die meisten viel dafür tun, sich hier zu integrieren, die deutsche Sprache zu lernen, eine gute Ausbildung zu machen und einen Job zu finden, ändert sich daran nichts.
Der Schriftsteller Anton Tschechow schrieb im Jahr 1888 über den russischen Menschen: „Auf der einen Seite (...) frühe Geschlechtsreife, leidenschaftlicher Durst nach Leben und Wahrheit, Träume von einem Schaffen so weit wie die Steppe, ruheloses Analysieren, Armut an Kenntnissen neben hohem Gedankenflug; auf der anderen – die unermessliche Ebene, das raue Klima, das graue, rohe Volk mit seiner schweren, kalten Geschichte, Tatarenjoch, Beamtentum, Armut, Unbildung, die Feuchtigkeit der Hauptstädte, slawische Apathie... Das russische Leben schlägt den Menschen (...) wie ein Stein von tausend Pud Gewicht.“
Selbst wenn einiges davon an den Verhältnissen lag, mag Letzteres dazu geführt haben, dass so viele Russen nach 1989 ausgewandert sind. In Hamburg leben laut Statistik etwa 75.000 Russen, inoffiziell spricht man von 100.000 Russischsprachigen – die größte Migrantengruppe von allen. Einige blieben fest mit ihrem Glauben verbunden und besuchen die wenigen russisch-orthodoxen Kirchen in Hamburg, von denen eine erst Ende August in Bahrenfeld eröffnet wurde.
Pater Sergej Baburin spricht sanft und leise. 2000 aktive Mitglieder zählt seine Gemeinde, aber viele wollen auf keiner Liste auftauchen, also ist die wirkliche Zahl um einiges höher. „Hier in der Kirche fließen keine politischen Konflikte ein“, betont er. Von hier gehen viele Initiativen aus wie der großartige Chor, die Kirche arbeitet mit der „Tanzbrücke“ und einem Volleyballclub zusammen, und sie betreibt mit großem Erfolg einen Kinder-Boxclub. „Wir haben hier einen hoch begabten Trainer, zu dem die Leute ihre Kinder schicken. Uns ist der Kampfsport wichtig, denn dieser Trainer spricht viel über Moral und Verantwortung“, erklärt Baburin.
Viele seien in Hamburg zum ersten Mal in eine Kirche gegangen. Es sei zwar spürbar, dass wenn es den Leuten besser gehe, sie dann „etwas weniger an Gott denken“, aber das sei ja ganz allgemein so. Wohl wahr. Allerdings „haben die Menschen mit vermehrter Schärfe das Gefühl einer herannahenden Katastrophe“, sagt der Priester. Meist sei er mit der Frage nach dem Sinn des Lebens konfrontiert. Viele junge Menschen und sehr viele Kinder kommen her, weshalb derzeit neben der Gnadenkirche ein Gemeindezentrum entsteht, wo eine Sonntagsschule hinein soll. Und weil Russen die Kunst lieben, werden die Kinder dort in den Fächern Kunst, Musik, Literatur, Religion und russischer Sprache unterrichtet. Regelmäßig besuchen er und seine zwei Kollegen Alte, Kranke und alle Gefängnisse. Ein monatlicher Gottesdienst dort ist Tradition geworden.
Viele Menschen engagieren sich, für die russische Community oder aus ihr heraus. Elwira Dircks arbeitet ehrenamtlich für den Verein „Brücke“. Am Anfang waren es nur 20, heute kommen 200 Kinder und Erwachsene in dessen Schule, um nachmittags Russisch zu lernen. „Wir möchten den Kindern etwas von unserer Kultur zeigen. Wo wir groß geworden sind, was unsere Sprache ist, die für die Kinder keine Muttersprache mehr ist“, sagt Elwira Dircks. „Wir feiern hier Feste und pflegen unsere Bräuche.“ Gerade ist die Schule dank des beherzten Hausmeisters der Grundschule Stockflethweg in deren Räumen neu untergekommen. Eine Volkstanzgruppe ist derzeit dabei, sich zu bilden, und ein russischer Chor hat sich gegründet. Der Russisch-Unterricht ist in der „Brücke“ Schwerpunkt, außerdem gibt es Theater- und Malunterricht. „Unsere Lehrer sind engagiert und sehr gut ausgebildet“, sagt Elwira Dircks. Auch Elena Botchanov ist kulturell aktiv. Sie betreibt den Verein „Rockfront“ und veranstaltet Konzerte, Theateraufführungen oder Austausch-Theaterprojekte. „Und ich betreue die Website hamburger-kinoforum.de. Wir zeigen sehr gute russische Filme. Letztes Jahr kamen 2000 Leute. Halb Russen, halb Einheimische.“
Sehr jung ist der Jura-Student Anatolij Kagadij, 25, vor sieben Jahren mit Eltern und Schwester vom schwarzen Meer nach Hamburg gekommen. Seine Großmutter war Deutsche, doch von mütterlicher Seite ist er „komplett russisch“. Mittlerweile hat seine Schwester in Leipzig ihr Medizin-Studium abgeschlossen. Die deutsche Sprache hat er in zwei Integrationskursen gelernt, danach „am besten über Filme. Die habe ich mir zuerst auf Russisch angesehen, dann auf Deutsch.“ Nach dem Abitur war er bei der Bundeswehr, „da wurde uns Disziplin beigebracht. Das ist fürs Studium ganz nützlich.“ Jetzt studiert er in Hamburg Jura, speziell Steuerrecht, „weil das schwer ist“. Von russischen Vereinen hält er sich fern, denn „ich will mich hier ja integrieren“. Seine Freundin kommt allerdings aus Russland. Wenn er neben der Arbeit im Studium und seinem Nebenjob im Museum noch Zeit hat, musiziert er: „Ich spiele Schlagzeug, Klavier und alle Gitarren. Und ich komponiere gern Musik. Das fällt mir leicht.“
Auf die Frage, was er an sich selber als typisch russisch wahrnehme, antwortet Kagadij: „Die Ausdauer. Ich kann auf alles verzichten, wenn ich etwas unbedingt erreichen will. Und wenn ich etwas nicht verstehe, dann lese ich zehn Bücher, bis ich es verstanden habe“. Aber was sonst ist typisch Russisch? So viel fällt den Hamburger Russen dazu gar nicht mehr ein. Sie wollen sich integrieren, sie fühlen sich als Europäer. Die Unterschiede schwinden.
Einen ähnlich eisernen Willen wie Anatolij Kagadij hat auch Irina Bukowski, 44, an den Tag gelegt. Sie ist Russin und stammt aus Kirgisien, der Heimat des Dichters Dschingis Aitmatov. „Anfang der 90er Jahre war ich Grundschullehrerin, war schon Witwe und hatte eine kleine Tochter. Es war die Phase der Privatisierung. Wir Kirgisen sind unternehmungslustige Leute, aber wir standen plötzlich vor riesigen Problemen. Einerseits hatte sich das Land Anfang der 90er Jahre geöffnet, andererseits ging die ganze Struktur kaputt.“ Mit Ende 20 ging sie folglich nach Deutschland. Als die Entscheidung fiel, waren ihre schwäbischen Großeltern schon hier, ebenso ihre Eltern und ihr Bruder. „Die schlimme Geschichte des Zweiten Weltkrieges hat das Deutschlandbild bestimmt, mit dem ich hergekommen bin. Ich musste mir erst mal sagen: Das ist Geschichte! Die Leute können nichts dafür. Mir hat dann imponiert, wie die Deutschen mit ihrer Vergangenheit umgehen.“
Am Anfang wollte Irina Bukowski nur eins: Weiterentwicklung. „Ich wollte Freunde, Sprache, alles ablegen – aber da ging es mir nicht gut. Ich hatte plötzlich kein Fundament mehr. Keine Meinung, so ein Gefühl wie mit 14, 15. Was bin ich? Wie drück ich mich aus? Essen? Kleidung? Frisur? Es war eine Suche nach meiner Identität.“ Ihr Abschluss als Lehrerin wurde hier nicht anerkannt, also studierte sie noch mal. Sozialpädagogik. Und arbeitet heute in der Jugendhilfe. „Aufgewachsen bin ich mit dem Bewusstsein, in einem Kollektiv zu leben. Als ich hierher kam, fiel es mir schon in einem Seminar schwer, darum zu bitten, das Fenster zu öffnen. Ich habe immer gefragt: Dürfen wir das Fenster aufmachen? Dabei war ich es, die das Fenster öffnen wollte.“
Manchmal wünscht sie sich „eine dicke Haut, an der mehr abprallt“. Zu ihrem beruflichen Auftrag gehöre, Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in Hamburg dafür zu gewinnen, mal die Wohnung zu verlassen, vielleicht ins Metropolis-Kino zugehen. Da sei aber eine sehr große Hemmschwelle für jemanden aus dem Ural. Sogar die Anfang 30-Jährigen seien damit überfordert. „Es ist nicht selbstverständlich, dass man so einen Wechsel in ein fremdes Land schafft. Da muss man Verständnis haben und das Positive sehen!“
Auch die Russin Tatjana Lidokhover spricht häufig in der „Wir“-Form. Hinter ihrem „Wir“ stehen drei Freunde, die zusammenhalten und gemeinsam das „Datscha-Projekt“ aufgebaut haben. Zuerst, seit 2001, war diese besondere Art des mobilen Musik- und Kulturclubs ein Hobby, „jetzt ist es wie ein zweiter Beruf“. Wo das Datscha-Projekt seine Zelte aufschlägt, „ist der Laden voll“, aber „davon leben können wir nicht“. Dass das Geldverdienen nicht ihr Ziel ist, ist wahrscheinlich der Grund für den unzerstörbaren Charme und die besondere, offene und persönliche Stimmung, die auf den Datscha-Partys herrscht. Diesen Charme bringt auch Tatjana mit. „Datscha – das ist meine Seele. Es hat so viel Gutes gebracht, uns so erfüllt in all den Jahren. Wir haben realisiert, was wir selber lieben. So ein Glück!“