In „Die letzten Zeugen“ vom Wiener Burgtheater sitzen sechs Menschen auf der Bühne, zwischen 82 und 101 Jahre sind sie alt. Schauspieler erzählen die Geschichten der Zeitzeugen der NS-Vergangenheit.

Hamburg „Die letzten Zeugen“ vom Wiener Burgtheater zählt zu den spektakulärsten Inszenierungen, die in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden waren. Sechs Menschen sitzen auf der Bühne, sie sind zwischen 82 und 101 Jahre alt und Zeitzeugen der Nazi-Massenmorde. Unterstützt von Schauspielern, erzählen sie von ihren Erlebnissen, von Selektion und Hunger, von Verschleppung und dem Leben im Konzentrationslager. Sie finden Worte für das Unfassbare, das man nicht erklären, nur beschreiben kann, für die Trauer um die ermordeten Familienangehörigen und die Millionen Toten des Holocaust. Matthias Hartmanns Aufführung sorgt in Wien für allergrößtes Publikumsinteresse. In Berlin und Dresden, wo die Inszenierung bereits spielte, gab es nicht enden wollenden Beifall. Zur Eröffnung des 6. Hamburger Theaterfestivals am 28. September gastiert sie nun in Hamburg im Schauspielhaus.

„Wir sind ja allzu schnell bereit, solche Menschen zu Opfern zu machen. Aber das sind sie nicht. Sie sind darüber hinweggekommen und wollen ihre Geschichte erzählen“, sagt die Schauspielerin Mavie Hörbiger, die als eine von vier Darstellern die Geschichten dieser Überlebenden erzählt. Während die Zeitzeugen Lucia Heilman, Vilma Neuwirth, Suzanne-Lucienne Rabinovici, Marko Feingold, Rudolf Gelbard und Ari Rath auf Stühlen im Hintergrund auf der Bühne sitzen, tragen die Schauspieler abwechselnd an einem Pult die Erinnerungen an Terror und Vernichtung vor.

Erinnerungen von Überlebenden werden sichtbar und spürbar

75 Jahre nach dem Novemberpogrom 1938 haben der ehemalige Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann und Autor Doron Rabinovici den „letzten Zeugen“ dieses Projekt gewidmet, in dem die große Last der Erinnerungen von Überlebenden des Nazi-Terrors sichtbar und schmerzhaft spürbar wird. Es basiert auf Autobiografien und Interviews, die der Schriftsteller Rabinovici zu einer beklemmenden Collage über Entmenschlichung verwoben hat. In allen Berichten kommt die damals allgegenwärtige Angst zum Ausdruck, das Bemühen, Worte für das Unfassbare zu finden, die Trauer um die ermordeten Familienangehörigen und die Millionen Toten des Holocaust.

1938 setzen die Erzählungen ein, die in Wien und Wilna spielen, in den Konzentrationslagern von Auschwitz, Theresienstadt und Neuengamme. Sie handeln von ehemals netten Nachbarn, die sich verwandeln und plötzlich „Judensau“ brüllen. Sie handeln von Ausgrenzung, Verschleppung, Demütigung, völliger Entrechtung, von Selektionen, dem Tod von Geschwistern, Eltern, Freunden und vom Hass, der auch mit dem Ende des Krieges 1945 nicht zu Ende gegangen ist.

So etwas darf nie wieder passieren

Die Überlebenden jedoch, die sich fragen lassen mussten, warum sie überlebt haben, treibt kein Hass. Sie sind wütend, dass so etwas möglich war, und sie wollen mit diesem Abend aufklären. Sie möchten den Menschen von heute eine Warnung mitgeben. Alle haben dasselbe Ziel: „Dass so etwas nie wieder passiert.“

Suzanne-Lucienne Rabinovicis erzählerische Kraft zieht die Zuhörer sogartig in die kaum fassbaren Berichte aus dem Getto in Vilnius. Wortgewaltig und nuancenreich schildert sie den Sadismus der SS-Männer, die unmenschlichen Bedingungen, die in den Verstecken herrschten, den Mut der Mütter. Ihre Mutter hat sie als Zehnjährige in einem Segeltuchsack eine halbe Stunde auf dem Rücken versteckt, während Soldaten mit Gewehrkolben auf sie einschlugen. Lucia Heilman überlebte in einem Versteck in Wien und widmet ihren Text dem Mann, der sie und ihre Mutter beschützte. Ein halbes Jahr lebte sie mit ihrer Mutter in einem Verlies in absoluter Dunkelheit.

Marko Feingold hat vier Konzentrationslager überlebt

Auch wer schon einige Geschichten aus dieser grauenvollen Zeit kennt, wird von diesem Theaterabend berührt werden. „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt“, heißt es im Talmud und wir kennen es aus „Schindlers Liste“. Hier im Theater begreift man es. Marko Feingold, der im Mai 101 Jahre alt geworden ist, hat vier Konzentrationslager überlebt. Während der Geschichten werden Dias auf Leinwände projiziert – sie zeigen Verwandte, Lager, beschmierte Schaufenster.

Diese Menschen sind die absolut letzten Zeitzeugen, deren authentische Erzählungen uns erreichen können. Ihre Stimmen bilden die Kraft gegen das Vergessen. Am Ende der Aufführung kommt jeder Einzeln nach vorne und richtet Worte des Dankes und der Mahnung an die Zuschauer. Nach der zweistündigen Vorstellung gibt es ein Publikumsgespräch. Jeden der Zeitzeugen kann man befragen. So wird das Erinnern und Erzählen aus dem Theater getragen. Wie klug.

„Die letzten Zeugen“ Sonntag, 28. September, Schauspielhaus, 19 Uhr, Karten bei allen Vorverkaufsstellen 16–58 Euro