Menschen aus den verschiedensten Kulturen leben häufig schon seit langen Jahren in Hamburg. In dieser neuen Serie stellt das Abendblatt einige der Kulturen und ihre Menschen vor. Teil 1: Mexiko – wo man die Toten feiert.
Der Hamburger Michel und Mexiko – ein größerer Gegensatz lässt sich kaum denken. An diesem Sommersonntag kann man ihn sehen und auf der Haut spüren. Die paar schwachen Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fallen, geben keine Wärme. In vornehmer Blässe wölbt sich die Kuppel über dem Kirchenraum – aber unten brodelt es. Die größte evangelische Kirche Hamburgs ist Schauplatz eines katholischen, spanisch-deutschsprachigen Gottesdienstes. Stille, Andacht? Fehlanzeige. Fröhliches Stimmengewirr bildet eine Art Grundrauschen. Neben der Kanzel steht eine Standarte mit grün-weiß-roter Flagge, eingerahmt von zwei Abbildungen der Jungfrau von Guadalupe, gewissermaßen die mexikanische Nationalheilige. Zwischen all den schwarzen Augenpaaren, Stoffblumen im Haar und Trachtenkleidern in den kräftigsten Farben, zu denen der Regenbogen nur in der Lage ist, wähnt sich der Besucher einen Moment lang von lauter Wiedergängerinnen der Malerin Frida Kahlo umgeben. Großmütter folgen ihren Enkelkindern diskret auf deren Expeditionen durch die Kirchenbänke. Vor dem Altarraum steht eine Mutter mit ihrer Tochter im weißen Tüllkleid. Das kleine Mädchen darf eine Kerze entzünden. Vollkommen versunken schaut das Kind nicht einmal auf, als ein paar Meter weiter eine Musikgruppe einsetzt.
Mariachi nennt man die Formationen, die sich aus Geige, Trompete, verschiedenen Gitarren und Harfe zusammensetzen und mexikanische Volksweisen spielen. Stilistisch sind Mariachi nicht auf eine bestimmte Region festgelegt. Die Musiker hier fluten die Kirche mit dem Soundtrack ungefähr jedes zweiten Taco-Restaurants: schlichte, etwas wehmütige Melodien, gerne in Terzen, begleitet und rhythmisch gestützt von gezupften Akkorden. Ihre schwarzen Sombreros mit den silbernen Paspeln haben die Musiker gegen die Treppenstufen zum Altarraum gelehnt. Dort prangen die Hüte wie Ausrufezeichen.
2011 ist die Mariachi-Musik zum Unesco-Weltkulturerbe geadelt worden. Im Michel allerdings geht es nicht um die künstlerische Qualität der Darbietung, sondern um ein Fest. Zu der Mariachi-Messe hat der Círculo Mexicano-Alemán eingeladen, kurz CIMA, der inoffizielle Gralshüter der mexikanischen Kultur in Hamburg. Auf Deutsch nennt sich der CIMA „deutsch-mexikanischer Freundeskreis“. Und von Freundschaft ist einiges zu spüren an diesem Nachmittag.
Nach der Messe geht es draußen vor dem Gemeindehaus mit einer Kirmes weiter – keiner käme auf die Idee, die norddeutsche Vokabel „Jahrmarkt“ dafür zu verwenden. Zwiebelduft weht über den Platz. An einer Reihe von Ständen locken Tacos in allen Variationen, Tortillas, Pozole und deutscher Kuchen. Und dann und wann ein kleiner, quietschbunter irdener Totenkopf, die sind nie fern bei Mexikanern. Die Erlöse werden für ein Sozialprojekt gespendet. Natürlich sind die Mariachi dabei, zu ihrer Musik tanzt die Gruppe Sol mexicano in schweren, bunten Trachtenröcken.
Gut und gerne 14 Meter Stoff wirbelt jede Tänzerin mit abgezirkelten Handbewegungen herum, wenn sie über den Boden gleitet oder die nagelbeschlagenen Absätze klackern lässt, und beschwört immer andere,flüchtige Figuren. Die Frauen strahlen. „Wir sind eine Familie“, sagt Sabine Hain Lozano, eine üppig gelockte Schönheit mit riesigen schwarzen Mandelaugen, in einer Pause und tupft feine Schweißperlen von ihrem Nacken. Die Gruppe trifft sich zum Tanzen dienstags im Kulturhaus Eppendorf und privat bei jeder Gelegenheit. „Hier haben wir unsere Kultur gefunden“, sagt Hain Lozano. „In Mexiko hätten wir das nie gemacht, zu einer Volkstanzgruppe zu gehen! Aber so können wir einen Teil von uns ausleben, der sonst keinen Platz hätte.“
América López de Straub hat an diesem Nachmittag einen Verehrer. Unablässig streicht der Mann mit der Zahnlücke und dem wirren Haar um ihren Stand herum und will sich partout mit ihr fotografieren lassen. Dass er der hochgewachsenen Gestalt in der eleganten schwarzen Mariachi-Tracht gerade bis zum Kinn reicht, hält ihn nicht ab. „Ich bin ein kleiner Mann mit einem großen Herzen!“, ruft er aus. López de Straub lässt sich von ihm für das Bild in den Arm nehmen, und als er ihr einen Schmatz auf die Wange gibt, lächelt sie ergeben, fast schüchtern wie ein junges Mädchen. Dabei hat sie selbst eine 14-jährige Tochter.
Seit 1997 lebt sie in Deutschland; der deutsche Teil des Nachnamens stammt von ihrem Mann, mit dem sie nach Frankfurt und 2006 nach Hamburg gezogen ist. „Die meisten Frauen kommen hierher, weil sie einen deutschen Mann geheiratet haben“, sagt sie, als der Verehrer einen Moment Ruhe gibt. „Mir ist es wichtig, unsere Kultur zu pflegen, obwohl ich mich in Hamburg sehr wohlfühle.“ Am meisten vermisse sie an Mexiko Feste wie dieses, erzählt sie. Deswegen hat sie sich 2007 dem CIMA angeschlossen. Bis vor Kurzem war sie Präsidentin des Vereins; sie war es auch, die vor einigen Jahren eingefädelt hat, dass die Mariachi-Messen im Michel stattfinden konnten.
Niemand wird ausgegrenzt bei diesem Fest. Nicht der aufdringliche Verehrer und auch nicht die obdachlose Frau, der López de Straub in all ihrer Anmut einen Teller mit Essen serviert. An den Stehtischen mischen sich zwanglos mexikanisches Spanisch und Hamburger Tonfall. Man isst und trinkt und redet mit jedem. Die Stimmung ist so heiter, als glitzerte die Sonne an jedem Tag im Leben so wie jetzt, da sie die Kühle überwunden hat. Als gäbe es keine Sorgen. Und die Mariachi-Gruppe stimmt irgendwann den ewigen Pophit „YMCA“ an.
Die etwa 70 Mitglieder des CIMA haben einen eher bürgerlichen Hintergrund. Viele Frauen sind Ärztinnen oder Naturwissenschaftlerinnen oder Sekretärinnen. Generell ist die soziale Zusammensetzung unter den Mexikanern in Hamburg allerdings weniger homogen. „Das Publikum bei den Mariachi-Messen ist sehr gemischt“, sagt Martha Fernández, studierte Chemikerin und Ökonomin und Mutter von vier erwachsenen Kindern. Sie kennt auch andere Biografien. Sie kennt die Frauen, deren Ehen mit deutschen Männern nicht gehalten haben und die wegen der Kinder nicht nach Mexiko zurückgehen können. Und sie kennt die Frauen, die ohne Papiere in Deutschland leben und sich mit Putzen durchschlagen müssen. „Da ist oft große Not.“
Die unbeschwerte Stimmung bei der Kirmes stellt dazu keinen Widerspruch dar. „Mexikaner gehen einfach positiv ans Leben heran“, sagt Sabine Clausen. Die 52-Jährige trägt ein Huipil, eine Tunika aus dem Bundesstaat Oaxaca, zum blonden Haar. Sie ist als Kind deutscher Eltern in Mexiko-Stadt aufgewachsen, zweisprachig natürlich. Was sie wann spricht? „Rechnen auf Deutsch, schimpfen und Gefühle auf Spanisch.“ Natürlich fühle sie sich manchmal zerrissen zwischen den Kulturen. „Aber diese Lebenseinstellung hilft enorm. Wenn eine mexikanische Familie ein Kind verliert, dann sagen die Angehörigen: Wir haben noch einen Engel im Himmel.“
Selbst an diesem sonnigen Nachmittag kommen die Toten im Gespräch dauernd und wie selbstverständlich vor. Das jährliche Totenfest im November ist ein Fix- und Höhepunkt im mexikanischen Kalender. Wie es die Tradition verlangt, stellen Sabine Clausen, ihr Mann und ihre Töchter dann einen Totenaltar im Wohnzimmer auf. „Man kocht für die Verstorbenen“, erzählt sie, und dann lacht sie und fügt hinzu: „Und was die übrig lassen – das isst man halt selber auf.“