Sämtliche Studioaufnahmen der legendären Sopranistin erscheinen auf 69 neu gemasterten CDs. Der Mythos Callas ist untrennbar verbunden mit dem Siegeszug der Langspielplatte in den 50er-Jahren.

London. Die Beatles haben den Abbey Road Studios Weltruhm gebracht. Weltrang jedoch hatte der Ort schon vorher. Seit der Eröffnung 1931 hat in dem Gebäudekomplex hinter der georgianischen Villa im Londoner Stadtteil St. John’s Wood so ungefähr alles aufgenommen, was Rang und Namen hat: Herbert von Karajan etwa, Yehudi Menuhin und Maria Callas, die größte Diva aller Zeiten. Simon Gibson, Tontechniker der Abbey Road Studios, hat jetzt ein ganzes Jahr mit der Stimme der „Göttlichen“ verbracht, um den CD-Klang von den Abnutzungsspuren der Zeit zu befreien.

Wenn es um die griechische Sopranistin geht, überbieten Musikwissenschaftler einander in Superlativen, stürzen sich die Aficionados auf jede Raubkopie und die Klatschmäuler auf jedes Detail in einem Leben zwischen Jetset und tiefer Einsamkeit. Die Tragik ihrer Liaison mit dem Reeder Aristoteles Onassis kommt der einer Verdi-Oper nahe: Onassis spannte Callas erst ihrem Ehemann aus und verließ sie dann für Jackie Kennedy, die Witwe des amerikanischen Präsidenten. Zwischendurch wäre er aber wohl doch gern zurückgekommen. Sie soll ihn abgewiesen haben. Er starb 1975, sie nur zwei Jahre später mit 53 Jahren.

Der Mythos Callas ist untrennbar verbunden mit dem Siegeszug der Langspielplatte in den 50er-Jahren. Sie hat den italienischen Belcanto wach geküsst, all die Donizettis und Rossinis in ihrer Diskografie spiegeln es wider. Allein Bellinis „Norma“, ihre Paraderolle, hat sie 89-mal auf der Bühne gesungen. Callas’ Aufnahmen zählen nach Dutzenden, sie sind ihr Vermächtnis. Jetzt erscheint es im Paket: Warner Classics packt ihre Studioaufnahmen auf 69 CDs in einen fetten roten Karton, dazu die Libretti und ein üppiges Begleitbuch.

Damit sind die EMI-Jahre für Callas auch auf dem Plattenmarkt endgültig vorbei. 2012 wurde das angezählte Label an Universal verkauft, nur die Klassiksparte ging an Warner. Durch dieses Stühlerücken hatten die Tontechniker von Abbey Road erstmals Zugang zum Katalog des italienischen Labels Cetra, bei dem Callas’ frühe Aufnahmen erschienen waren – darunter das Kuriosum eines wagnerschen „Liebestods“ in italienischer Sprache.

Dem Haus in der Abbey Road sieht man das Hin und Her der vergangenen Jahre nicht an. Am Empfang grüßt ein gemütlicher junger Mann. Im Innenhof sitzen ein paar Angestellte beim Kaffee, die Hortensien blühen um die Wette. Und in den Fluren erzählt eine Galerie mit Schwarz-Weiß-Fotos aus der großen EMI-Zeit.

Der Tontechniker Simon Gibson ist ein Endvierziger mit britisch vernünftigen Schuhen und ebenso britischem Humor. Von seinem Schreibtisch fällt der Blick auf eine Vielzahl von Bildschirmen. Wenn Gibson sein Verfahren erklärt, klingt es ganz einfach: Er und seine Kollegen haben nicht frühere Vervielfältigungen verwendet, wie es sonst beim Remastering oft geschah, sondern die Originalbänder. Es war höchste Zeit. Nach 60 Jahren sind die Bänder nicht mehr die frischesten, jedes Abspielen bedeutet weiteren Verschleiß. Der Kleber an Schnittstellen könnte sich lösen oder gar die Haftung der Magnetschicht verfallen. „Wir mussten den richtigen Moment des technischen Fortschritts erwischen, um die Bänder digital zu bewahren“, erzählt Gibson.

Der entscheidende Fortschritt heißt „High Definition“, kurz HD. Die Auflösung beim neuen Remastering ist mehr als doppelt so hoch wie bei der herkömmlichen CD, sie fängt Luftschwingungen und Obertöne ein, die den Höreindruck atmosphärisch mitbestimmen. Wohl nirgends auf der Welt klingt das so überwältigend wie in Gibsons Cockpit, in der Schnittlinie der drei riesigen Lautsprecher. Gibson lässt Maria Callas die Arie „Ah! Je veux vivre ce rêve“ aus Gounods „Roméo et Juliette“ singen. Schon wenn die Sängerin einatmet, klingt es, als stünde sie direkt vor dem Hörer. Ihre atemberaubend klaren Koloraturen scheinen mitten in seinem Kopf zu entstehen. Diese Plastizität ist fast unheimlich, sie flutet den ganzen Körper.

Schade nur, dass die Käufer der roten Box dieses Hörerlebnis nicht in derselben Intensität haben werden. Denn für die CDs bleibt es bei der niedrigeren Auflösung. Andere Veröffentlichungswege für die HD-Variante seien geplant, heißt es beim Label. Doch auch auf CD ist das Ergebnis beeindruckend. Kein Rauschen, kein Knistern stört die Klarheit des Klangs. Das Programm „Retouch“ macht’s möglich. Es stellt die Schallwellen auf dem Bildschirm als farbige Schnörkel dar, nach Frequenz übereinandergeschichtet. Störgeräusche wie Rückkopplungen oder eine vorbeifahrende Vespa kann der Tontechniker mit dem Cursor markieren und entfernen.

Ganz so einfach war das mit dem Bearbeiten natürlich nicht bei dem riesigen Œuvre. Jede Stelle musste von Hand bearbeitet werden – und jedes Mal musste der Tontechniker abwägen, wie weit er eingreifen sollte. Das Ergebnis sollte keinesfalls steril klingen. „Wir wollten nur technische Fehler ausmerzen“, sagt Gibson. „Der Hörer soll genau das bekommen, was auf dem Band drauf ist.“

Das Studio 1 kann zu Callas’ Lebzeiten nicht wesentlich anders ausgesehen haben als an diesem Morgen. An einer Wand hängen bunte Kabel, auf dem Parkett zeigen Klebestreifen die Mikro-Positionen an, irgendwo in den vergilbten Deckenlamellen hängt noch die Aura all der bedeutenden Künstler, die dort gearbeitet haben. In diesem Saal ist die erste EMI-Aufnahme überhaupt entstanden: Sir Edward Elgar höchstselbst dirigierte sein „Pomp and Circumstance“. Und in diesem Saal hat Maria Callas 1958 eine LP aufgenommen.

Es blieb die einzige; Callas mochte die Akustik nicht. Aber die Platte mit Verdi-Arien hat es in sich. Die Schlafwandler-Szene aus „Macbeth“ ist ein Gipfelmoment von Callas’ Kunst, dem Text durch einen beständigen subtilen Wandel der Klangfarbe Gestalt zu verleihen. Wenn die Lady das Blut des Königs auf ihren Händen bemerkt, den sie hat ermorden lassen, schwenkt ihr Erstaunen im selben Moment zu Ekel um. Im Verlauf der Arie macht Lady Macbeth von Zorn bis Entsetzen alle Phasen des bösen Gewissens durch, immer auf dem Grat zwischen Klarheit und Wahnsinn. Und jede einzelne kann man hören.

Callas’ weites Vibrato hat Kritiker und Spötter schon früh auf den Plan gerufen. In ihren späteren Jahren nahm es auf Spitzentönen mitunter einen beängstigenden Ausschlag an. Bei der „Norma“-Aufnahme von 1960 hatte ihre Stimme den Zenit hörbar überschritten, doch ihre vokale Darstellung der facettenreichen Figur lotete tiefer als je zuvor.

„Die Leute glauben zu wissen, worin ihre Aura bestand“, sagt Simon Gibson. „Das nehme ich für mich nicht in Anspruch.“ Doch er ist Robert Gooch begegnet, dem Toningenieur, der bei den Aufnahmen vor mehr als einem halben Jahrhundert dabei war und von der Diva erzählen konnte. „Ich habe von Callas so viel gelernt wie in meinem ganzen Studium nicht“, sagt Gibson.

Ihr Stimmklang, wie scharf oder unausgeglichen er damals auch gewesen sein mag, ist bis heute unverwechselbar. Zu Herzen geht eben nicht Perfektion, sondern der persönliche Ausdruck. Und dem hat Maria Callas zeit ihrer Karriere alles andere untergeordnet, ohne sich zu schonen. Nur diese Unbedingtheit kann die bis heute andauernde Faszination erklären: Die 69 CDs sind ein Geschenk an ihre Fans, die heutigen und die künftigen.

Callas Remastered. Warner Classics, erscheint am 22. September, ca. 199 Euro; www.warnerclassics.de