Der Ottensener Kontrabassist John Eckhardt verneigt sich mit seinem musikalischen Projekt „Forests“ vor den Sommern seiner Kindheit. Inspiriert haben ihn Flechten und Moose aus Schweden.

Hamburg. Keine Aussicht, nirgends. Proben bitte nur abends, wenn die Geschäftsräume obendrüber nicht besetzt sind. In seinem Kellerraum in Altona-Nord muss John Eckhardt den Wald, den er so sehr liebt, schon im Herzen tragen. „Ich finde, es ist ein Privileg, zusätzlich zu meiner Wohnung dieses Studio zu haben“, sagt der Schlaks mit dem silbrig überhauchten Haar. „Hier habe ich meine Musik und mein Moos, keiner stört mich.“

Musik und Moos, das ist gewissermaßen die Kurzformel für Eckhardts jüngstes Projekt. Ein Kontrabass lehnt an einem Stapel Kisten, doch beherrscht werden die paar Quadratmeter von riesigen Plastikboxen. Darin: pastellfarbene Knäuel, die aussehen wie Grünzeug für eine Modelleisenbahn. Er zieht ein Zweiglein heraus und hält es in das matte Licht, das durch die Glasbausteine fällt. „Diese Flechte ist sehr selten“, sagt er und zeigt auf einen eigelb leuchtenden Fleck auf der Rinde. „Die fand ich besonders anziehend.“ Er bettet den Zweig in ein durchsichtiges Kunststoffkistchen. In der nächsten Stunde wird er dazu packen, was der Wald so hergibt: Flechten und Rindenstücke, Wildschweinhaare, kleine Baumpilze und – eingelassen in ein fingerlanges Aststück – einen USB-Stick mit Musik, Texten und Fotos.

Eckhardt stellt gerade seine neueste Produktion fertig. „Forests“ heißt das Projekt und erscheint im Selbstverlag. Eckhardt spricht von seinem „Collector’s Item“. Jedenfalls ist das Waldkistchen mal eine andere Verpackungsform als die gute alte CD-Box.

Die Musik dazu ist eine klingende Meditation über den wundersamen Mikrokosmos Wald. Eckhardts Landschafts- und Naturbilder sind hochsuggestiv. Sie tragen so geheimnisvolle Namen wie „cedri“, „nemora“ oder „svartälen“. Die Musik kennt keine definierte Form und schon gar keine Tonalität, sie saugt den Hörer gleichsam auf einer vorbewussten Stufe ein. Mal umkreist Eckhardt einzelne Tonhöhen in mikrotonalen Abständen, dann stapelt er Obertöne. Saiten peitschen aufs Griffbrett wie Gewittergüsse. Es zwitschert und trommelt und ächzt und gurgelt, als stünde man tatsächlich mitten im Wald.

Genauer, in einem ganz bestimmten Wald in der mittelschwedischen Provinz Västmanland. Dort ließ sich 1928 Eckhardts Großvater nieder, ein Deutschbalte, der aus Riga emigriert war. Eckhardt ist in Gießen aufgewachsen, aber er hat als Kind alle Sommerferien in Schweden verbracht. Bis heute fährt er hin, sooft er kann. „Forests“ ist eine Hommage an den Ort. Klar, dass die Flechten und Moose nur von dort stammen können und nicht etwa aus dem Klövensteen.

„The String Quartets“ nennt Eckhardt seine Musik hintersinnig. Er hat sie nämlich allein auf seinem Bass eingespielt – vierstimmig, eine Spur nach der anderen. Dem Klang seines Instruments hat er nichts hinzugefügt, nur immer wieder zugehört, wie der sich mit jeder Tonspur veränderte. „Man entdeckt andere Parameter“, erzählt er. „Manches bekommt eine neue Bedeutung. Der einfache Bogenwechsel etwa.“

Das Experimentelle gehört zum Wesen seiner Musik. „Sie ist weder komponiert noch improvisiert“, sagt er über sein Verfahren. Unter anderem bringt er seine Vorgehensweise mit Dub in Verbindung, einer Spielform des Reggae, bei der in unzähligen Wiederholungen immer neue Varianten desselben Materials entstehen. „Mich interessiert am meisten die Frage: Was passiert dadurch, dass man allein durch Beobachten einen Rahmen setzt?“

Schon in seiner Studienzeit hat er manchmal am Ostseestrand ein Viereck in den nassen Sand geritzt und dann untersucht, was sich darin befand, wie viele Algen, Muscheln, Sandkörner. Da war er noch ganz klassisch für Kontrabass an der Lübecker Hochschule eingeschrieben und spielte nebenher Jazz in Hamburg. Grub sich nach dem Examen für zwei Jahre im neuenglischen Hartford ein und schaffte sich fern jeder Ablenkung ein Repertoire jener hermetischen Avantgardemusik drauf, die zu verstehen und technisch zu beherrschen es manchmal Monate braucht.

Mit Neuer Musik verdient er auch seinen Lebensunterhalt, am Kontrabass und am E-Bass. Eckhardt hat mit den Avantgarde-Gurus Pierre Boulez und Helmut Lachenmann gearbeitet und spielt bei den ersten Adressen der Szene wie dem Ensemble Modern und dem Klangforum Wien. Er spielt aber auch mit dem Winsener Ensemble l’art pour l’art und dem Hamburger Ensemble Resonanz. Und manchmal kommt er sogar mit Mozart in Berührung.

„Ich könnte mich nie für einen Stil entscheiden“, betont er. „Ich habe schon in meiner Jugend alle fünf Jahre völlig andere Musik gehört. Wenn man so ein musikalischer Nomade ist wie ich, bilden sich Querverbindungen, die jemand, der nur eine Art Musik macht, nicht haben kann. Ausschließlich etwas zu tun, bei dem ich mich bereits total auskenne, ist für mich nicht kreativ.“

Diese Skepsis gegenüber Gewissheiten liegt auch „Forests“ zugrunde. Eckhardt hat seine Faszination für die Unendlichkeit der Schöpfung in 216 Fotos dokumentiert, die er mit auf den Stick gespielt hat, zu betrachten beim Hören der Musik. Es sind ruhige Bilder. Hier taucht ein Elch in einen See, da schweben Wasserläufer auf haarfeinen Beinchen über die Oberfläche, dort glänzt eine Schlange, als hätte sie jemand lackiert. Andere Bilder zeigen geradezu abstrakte Strukturen, das Craquelé-Muster einer Baumrinde etwa oder die Silhouette des Vollmonds, die von kahlen Zweigen rhythmisiert wird.

Wo Eckhardt die Schönheit auf der Mikroebene feiert, verschmelzen Bilder und Musik zu einem Credo. Er erklärt es so: „Ob ich ein Insekt beobachte oder unzählige sechseckige Eiskristalle, ob ich auf meinem Bass spiele und das 120 Jahre alte Holz Klänge produziert, auf die ich dank Milliarden von Neuronen in meinem Körper reagieren kann: Jedes dieser Systeme ist aus demselben Pool von Elementen zusammengesetzt wie der Wald.“

Der Mensch als Teil der Schöpfung – auf eine stillere Art kann man den darin liegenden Imperativ kaum vermitteln. Eckhardt ist keiner, der seine Botschaften heraustrompetet. „Die Welt ist schon so voll von Ausdrucksgesten und Architektur“, sagt er. „Mir fehlt das vorsichtige Beobachten. Wer etwas entdecken will, muss sich selber ganz zurücknehmen.“

So geht John Eckhardts Schule des Staunens.

John Eckhardt: „Forests“. Bereits erschienen; erhältlich unter www.johneckhardt.de/forests