Zehn Jahre lebt der Hamburger Simon Schwartz in der Hansestadt. Heute gehört er zur Crème de la Crème der deutschen Comiczeichner. Sein aberwitziges Buch „Vita Obscura“ ist dafür das beste Beispiel.

Hamburg. Mit sechs Jahren fing er an, und als er zehn war, hatte Simon Schwartz schon 300 Seiten Comics gezeichnet. Cowboygeschichten und so was. Er wusste also schon sehr früh, was er werden wollte. Seit der inzwischen 31 Jahre alte Hamburger an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften fertig studiert hat und seine ersten Bücher erschienen sind, reiht sich ein Erfolg an den anderen.

2009 kam mit „drüben!“ seine erste Graphic Novel heraus, mit der er sich die bedrückende Geschichte seiner Eltern von der Seele schrieb und zeichnete, die in der DDR einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Der packend-realistische Comic wurde für den Deutschen Jugendbuchpreis nominiert, und heute wird er in Thüringer Lehrplänen für den Unterricht empfohlen. Selten hat jemand so klar und dennoch so berührend über die Probleme der deutsch-deutschen Teilung geschrieben. Für Erwachsene wie Kinder gleichermaßen lesenswert.

Dann folgte „Packeis“, die wahre Geschichte von Matthew Henson, der mutmaßlich als Erster den Nordpol betreten hat, aber wegen seiner schwarzen Hautfarbe um den Ruhm gebracht und lange Zeit totgeschwiegen wurde. Für „Packeis“ erhielt Schwartz 2012 den Max-und-Moritz-Preis, die höchste deutsche Comicauszeichnung. Und jetzt sein jüngster Coup in Buchform: „Vita Obscura“, eine Sammlung farbiger Comicstrips, in denen Simon Schwartz 32-mal das Rad der Zeit zurückdreht und der selektiven Geschichtsschreibung ein Schnippchen schlägt.

Es sind lauter unterhaltsame Geschichten von vergessenen Helden, Finsterlingen, Querköpfen oder Erfinderinnen, die die große Zeitwalze schon unter sich begraben hatte. Simon Schwartz hat sie wieder ausgebuddelt und mit enormem Spaß Seite für Seite sachlich und pointensicher gefüllt. Sie alle aufzuspüren hat viel Zeit und Mühe gekostet, aber es hat sich gelohnt: Zumal Schwartz mit großer Sorgfalt ein geradezu unerschöpfliches Repertoire an Gestaltungsmöglichkeiten durchprobiert hat. Für fast jede Geschichte hat er eine andere Form gefunden, er variiert die Architektur der Comicstrips sehr schöpferisch, spielt mit Schriften, Farbe und Technik. Vom Papiertheater über japanisch inspirierte Farbholzschnitte, von der Anziehpuppe bis zu in Fragmente zersplitterten, irrlichternd bekleckerten Aquarellpapieren, auf denen er einen LSD-Trip schildert.

Andere Erzählmöglichkeiten

Zunächst waren die Comicstrips in der Wochenzeitung „Freitag“ erschienen, wo derzeit wieder eine neue Serie vom Simon Schwartz zu den amerikanischen Bergarbeiter-Aufständen 1914 bis 1924 gedruckt wird. Sie heißt „Blutige Kohle“ und zeigt, dass der Kampf um Arbeit(nehm)errechte eine lange Tradition hat. Auch für die „FAZ“ und die „Zeit“ zeichnet Schwartz regelmäßig. Ursprünglich hatte er Trickfilm studieren wollen und schon die Prüfung bestanden. Aber dann entschied er: „Mit dem Zeichnen kann ich völlig anders erzählen. Ich bin da viel selbstbestimmter“.

Da alles in „Vita Obscura“ auf historischen Tatsachen beruht, ist diese Graphic Novel auch ein Geschichtsbuch, aus dem der Leser viel, sehr viel lernen kann über den Lauf der Welt, über Güte, Schlechtigkeit oder Verschrobenheit. Über exzentrische, wunderliche Menschen oder geniale Köpfe, die ihrer Zeit so weit voraus waren, dass man sie einsperrte oder ignorierte. „Historische Stoffe erklären uns die Gegenwart“, findet Simon Schwartz.

Die kurvige Wienerin Hedy Lamarr etwa war zwar 1933 nackt in einem Skandalfilm zu sehen und wurde nach ihrer Emigration in die USA zur Hollywood-Diva. Aber wer weiß schon, dass sie 1942 eine Funkfernsteuerung mit selbsttätig wechselnden Frequenzen erfand, die inzwischen Eingang in die WLAN-Technik gefunden hat? Simon Schwartz erinnert daran.

Oder wer weiß von dem Heldentum des Polen Witold Pilecki, der gleich nach dem deutschen Überfall die erste Widerstandsbewegung in Polen gründete, sich in Auschwitz internieren ließ und dort innerhalb von zwei Jahren eine Untergrundbewegung aufbaute, die 1000 Menschen umfasste? Pilecki informierte im Geheimen die Alliierten, die nicht reagierten, floh, und hielt mit einer Einheit im Warschauer Getto zwei Wochen lang der Übermacht der Deutschen stand.

Nach dem Krieg wurde Witold Pilecki trotz der Beweise, die er anbrachte, verhaftet und in einem Schauprozess der Spionage für den Westen angeklagt. 1948 folgte seine Hinrichtung, und erst 2009 verlieh ihm die Stadt Warschau posthum die Ehrenbürgerwürde.

Meist gelingt es Simon Schwartz, Tragik und Komik auf einer Seite zu vereinen: Aus einer liebevoll gezeichneten Ledertasche lässt er eine tickende Bombe hervorlugen – Erpressungswerkzeug des Flugzeugentführers D.B. Cooper, der damit 1971 eine Boeing kaperte. Er bekam die geforderten Fallschirme und 200.000 Dollar, ließ die Passagiere frei, zwang die Crew dann aber zum Weiterflug und sprang aus der hinteren Luke mit einem Fallschirm über den Cascade Mountains ab. Neun Jahre später fand man einen Teil des Lösegelds, 2008 sogar seinen Fallschirm. Aber von ihm fehlt bis heute jede Spur. Danach wurden alle Boeings serienmäßig mit einer Vorrichtung ausgestattet, die verhindert, dass sich die hintere Luke während des Flugs öffnen lässt. Ihr Name: Cooper-Keil.

Simon Schwartz: „Vita Obscura“, Avant Verlag, 72 Seiten, 19,95 Euro