Das erste „Soul im Hafen“-Festival in Wilhelmsburg hätte weit mehr als 6000 Besucher verdient gehabt
Hamburg. Wenn man nicht wüsste, dass dieser Mann privat sensibel, intelligent und klar bei Verstand ist, könnte man meinen, dass der Auftritt von Wyclef Jean in Hamburg in diesem Jahr das Durchgeknallteste war, was man sich vorstellen kann. Bislang. Was der amerikanische Superstar-Musiker und Produzent auf dem Dockville-Gelände in Wilhelmsburg neben rostigen Hafenkais und einem verlassenen chinesischen Massengutfrachter ablieferte, changierte zwischen Genie und Wahnsinn. Nichts Neues, sagen manche Beobachter. Aber Wyclef Jean überraschte mit seiner Spielfreude und einem Best-of-Programm auch jene, für die diese Mischung aus Hip-Hop, Reggae und Soul schon altbekannt klingt.
Fünf Wochen nach seinem Auftritt mit Shakira und Carlos Santana vor dem WM-Endspiel in Rio wütete Wyclef Jean bei „Soul im Hafen“ über die Hamburger Bühne. Er tobte, tanzte, rappte. „Ready Or Not“, „Fu-Gee-La“ und „Killing Me Softly“ lieh er sich für Neu-Interpretationen bei seiner längst aufgelösten Band, den Fugees. Erbarmungswürdig jammerte er „911“, voller Inbrunst coverte er Bob Marleys „No Woman, No Cry“ und Bob Dylans „Knockin’ On Heaven’s Door“. Von seinen zahllosen Freestyle-Raps unterbrochen, stampfte Jean durch das Programm und ließ den 6000 Staunenden keine Sekunde zum Durchatmen. Es ist eine Kurz-Tour über europäische Bühnen, die er absolviert. Gestern Norwegen, heute Hamburg, morgen Ibiza. Einfliegen, Show, ausfliegen. Ohne Soundcheck enterte er die Bühne, spielte die Gitarre hinter dem Kopf, mit Zunge und Zähnen und sang sich die Seele aus dem Leib.
Soul ist das Motto des neuen Festivals. Es hätte mehr Zuschauer vertragen können. Ob’s am Hamburger Wetter lag? Mit Wyclef Jean, Joss Stone, Aloe Blacc und dem bezaubernden Hamburger Gewächs Nneka war das Programm von der Papierform her erstklassig. Es ist selten, dass sich so hohe Erwartungen auch tatsächlich erfüllen. Diese Mixtur aus altem und neuem Soul, Hip-Hop, R&B und Reggae hat nicht nur einen „Markt“. Sie trifft auf erstaunlich viele junge Leute, die mit den Nachfahren längst verblichener musikalischer Vorbilder wie Marvin Gaye, Otis Redding und anderen offensichtlich etwas anfangen können.
Eine bestens aufgelegte Nneka wärmte das Publikum im leichten Nieselregen mit ihrem scharfen Potpourri aus Soul und Reggae. Wenn man bedenkt, dass sie als Kind im Schulchor in Altona sang und mittlerweile diese Karriere hingelegt hat, muss man sich schon schütteln, um es zu glauben. Bei ihrem Duett mit Joss Stone später am Abend hatte man den Eindruck, dass eine Königin und eine Prinzessin sich per Mikrofon die stimmlichen Perlen zuwarfen. Diese wohlige Wucht von zwei zierlichen Frauen donnerte über das Gelände und den Hafen.
Aber Joss Stone wäre nicht die Anführerin einer neuen Generation von Soul-Sängerinnen, wenn sie nicht auch ein bisschen Diva wäre. Lange hatte sie ihren Soundcheck hingezogen. Perfekt sollte ihre schwere Stimme rüberkommen. Wer mit Soundmeister Dave Stewart (Eurythmics) und Stones-Lippe Mick Jagger gleichberechtigt und professionell gearbeitet hat, der begreift auch Hamburg-Wilhelmsburg als Herausforderung. Joss Stone schuf einen großartigen Klangteppich, in den sie ihr Gurren und Schnurren, das Balzen und Schmalzen immer wieder gekonnt einnähte. Da dürften Rihanna, Beyoncé oder Alicia Keys ganz große Ohren bekommen.
Eine Live-Entdeckung war Aloe Blacc. Wer im Sommer ein paar Radiohits hat, der verschwindet doch meistens schnell wieder vom Popradar. Der Kalifornier Blacc ist ein kleiner Star auf dem zweiten Bildungsweg. Freimütig erzählte er, dass er in seinem Bürojob gefeuert wurde, ehe er sich entschloss, aus seinem Hobby Musik einen Beruf zu machen. So lässig wie er seinen Megaseller „I Need A Dollar“ ins Publikum schleuderte, wünscht man sich viele One-Hit-Wonder. Blacc machte kurze Ansagen, scherzte mit dem Publikum. Seine Radiobestseller „The Man“ und „Wake Me Up“ kamen ebenso unangestrengt daher.
Mehr Anspannung verlangte der Headliner Wyclef Jean (siehe Interview). Dieser Clown ist sich seiner produktiven Verrücktheit voll bewusst. Doch ob es tatsächlich je ein Comeback der Fugees geben kann, wie er andeutete, ist fraglich. Man wird die exaltierte Ex-Fugees-Sängerin Lauryn Hill und ihren Auftritt am 9. September im Hamburger Stadtpark am Soul-Sonnabend in Wilhelmsburg messen.