Die Hamburger Kunsthalle zeigt unter dem Titel „Spot on“ 200 ihrer Spitzenwerke und lädt zu einem Rundgang durch 600 Jahre Kunstgeschichte
Hamburg. Es gibt Situationen, in denen man alte Bekannte mit völlig neuem Augen sieht. Man begegnet ihnen außerhalb der vertrauten Umgebung und entdeckt plötzlich Qualitäten, neue Züge und sympathische Seiten, die man in den Jahren zuvor schlicht übersehen hatte. Ein solcherart ungeahntes Erlebnis bietet von diesem Freitag an die Hamburger Kunsthalle mit ihrer Ausstellung „Spot on“, die aus der schlichten Not der noch bis Ende 2015 andauernden umbaubedingten Teilschließung eine Tugend macht und die Spitzenwerke ihrer Sammlung im wörtlichen Sinne ins Scheinwerferlicht rückt.
„Von allem das Beste!“, der Wahlspruch des Kunsthallen-Gründungsdirektors Alfred Lichtwark, beschreibt auch das Prinzip dieser außergewöhnlichen Sammlungspräsentation, für die die drei Kuratorinnen Anna Heinze, Merle Radtke und Neela Struck insgesamt 200 Werke aus 600 Jahren Kunstgeschichte ausgewählt und in neue thematische Zusammenhänge gestellt haben. Dafür gewährt das Sockelgeschoss der Galerie der Gegenwart auf 2000 Quadratmeter Ausstellungsfläche die besten Voraussetzungen, nicht zuletzt, weil sich hier alle Möglichkeiten einer wirkungsvollen Lichtregie bieten.
Richard Serras 1996 für den Ungersbau geschaffenes Werk „Spot On“, eine schwarze Ellipse auf weißer Wand, das wie die Umkehrung eines Scheinwerferlichtkegels wirkt, bildet nicht nur den Titel, sondern auch den Ausgangspunkt der Schau, die der Chronologie der Kunstgeschichte folgt. Es beginnt mit der mittelalterlichen Tafelmalerei, die hier, unter weitgehendem Verzicht von Raumlicht, fantastisch zur Geltung kommt. So voller wunderbarer Leuchtkraft hat man die Tafeln von Meister Franckes Anfang des 15. Jahrhunderts entstandenem Thomas-Altar mit seinen figurenreichen Bilderfolgen noch nie gesehen. Und auch die holländischen Meister des Goldenen Zeitalters entfalten dank der effektvollen Beleuchtung im Dunkel des Raums eine enorme Präsenz. Den Kircheninterieurs von Pieter Jansz oder Emanuel de Witte mit ihren auf Geometrie, Konstruktion und Optik gegründeten raffinierten Perspektiven stellen die Kuratoren die barocken Landschaftsbilder gegenüber, deren ruinöse Versatzstücke als Vanitas-Motive zu verstehen sind. Geht es auf der einen Seite in der Architektur um die menschliche Schöpferkraft, vergegenwärtigen andererseits die Verfalls-Motive auf den Landschaftsbildern die Vergänglichkeit allen menschlichen Lebens.
Wunderbar inszeniert ist auch die Kunstkammer, in der Fürsten und wohlhabende Bürger in der Renaissance- und Barockzeit Beispiele göttlicher Schöpfung und menschlicher Erfinderkraft in einem architektonischen Rahmen vereinten. Im Mittelpunkt steht hier Johann Georg Hinz’ Gemälde „Kunstkammerregal“, das als Orbis pictus Naturalien mit wissenschaftlichen Instrumenten und Artefakten in eine strenge Ordnung bringt. Um Gott und die Welt, um Heiliges und Profanes, geht es gleich nebenan unter dem Titel „Verklärung und Aufklärung“ mit herausragenden Werken der Barockmalerei. In Peter Paul Rubens’ „Himmelfahrt Mariens“ schwebt die Gottesmutter auf Wolken gen Himmel, doch gewannen neben Altargemälden und privaten Andachtsbildern auch neue Bildthemen, etwa zu gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Ereignissen, an Bedeutung.
Mit Werken wie „Der Morgen“ und „Die Lehrstunde der Nachtigall“ von Philipp Otto Runge entstand in der Zeit um 1800 ein neue Art der Kunst, die ihre Weltsicht in eine Fülle von Symbolen und Bezügen kleidet. Zur gleichen Zeit wird die Darstellung einer als idyllisch empfundenen Landschaft für Maler wie Joseph Anton Koch und Jakob Philipp Hackert zu einem Reflex auf die als Zumutung empfundene Entfremdung des Menschen in der beginnenden Industrialisierung. Zu den Höhepunkten zählen hier Caspar David Friedrichs symbolisch aufgeladene Landschaftsgemälde wie der berühmte „Wanderer über dem Nebelmeer“.
Max Liebermann, auch er einer der Hausgötter der Hamburger Kunsthalle, ist mit seinen „Netzflickerinnen“ vertreten, Lovis Corinth mit dem „Selbstbildnis im Harnisch“. Für den „Aufbruch in die Moderne“ stehen Bilder von Edward Munch und Ferdinand Hodler, aber auch Werke von Malern wie Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff. Die stilistische Vielfalt der klassischen Moderne zeigen Werke von Kandinsky und Franz Marc, aber auch von Lyonel Feininger. Besonderes Gewicht hat hier das Werk von Max Beckmann. Eine reizvolle Nachbarschaft bieten drei Bildnisse von Picasso, Paula Modersohn-Becker und das Selbstporträt der Hamburger Sezessions-Malerin Anita Rée, die in dieser illustren Gesellschaft durchaus bestehen kann.
Die Kunst seit den 1960er-Jahren, der die Galerie der Gegenwart ursprünglich gewidmet war, bricht die klassischen Grenzen der Kunstgenres auf. So entstand Richard Serras Werk „Measurements of Time“ in einer Aktion, in der die physikalischen Eigenschaften des Materials Blei und dessen Veränderung bewusst genutzt wurden. Werkgruppen von Georg Baselitz, Sigmar Polke und Gerhard Richter und Beispiele der Pop-Art, etwa die Serie von Andy Warhols Polaroids, bilden einen weiteren wichtigen Akzent. Schließlich geht es um Identität und Selbstinszenierung in der Gegenwartskunst, wofür Tracey Enims Video „Why I Never Became a Dancer“ steht, mit dem sie einen faszinierenden Einblick in ihren persönlichen und künstlerischen Werdegang bietet.
„Spot on“ bietet eine Qualitätsdichte, die eine gewöhnliche Sammlungspräsentation nicht erreichen kann. Immerhin wurde hier der Bestand von 360 auf nur 200 Werke reduziert. Gewiss hätte man im Einzelfall auch anders entscheiden können, dennoch überzeugt die getroffene Auswahl auch aufgrund der zugrunde liegenden thematischen Bezüge. Die komplette Sammlung wird erst nach dem Ende der umfassenden Sanierung und Modernisierung im Dezember 2015 wieder präsentiert werden.
Mit der jetzigen Ausstellungseröffnung endet auch das im Juli geltende Ticket-System, dessen Preise die Besucher selbst festlegen konnten. „Diese Idee wurde stark beachtet und auch überregional positiv aufgenommen. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht. Statt der von uns erwarteten 10.000 kamen in dieser Zeit mehr als 16.000 Besucher zu uns, von denen drei Viertel einen selbst gewählten Ticketpreis von vier bis zwölf Euro zahlten. Ein Drittel entschied sich für den freien Eintritt“, sagt Kunsthallen-Geschäftsführer Stefan Brandt. Die ab 1. August geltenden Ticket-Preise sind erstmals zweigeteilt: Das Ticket „Sammlung“ gilt ausschließlich für „Spot on“ und kostet acht, ermäßigt vier Euro. Wer außerdem noch die Sonderausstellungen (ab September Max Beckmann) besuchen möchte, zahlt ab jetzt zwölf, ermäßigt sechs Euro.
„Spot on – Meisterwerke der Hamburger Kunsthalle“ Galerie der Gegenwart, Sockelgeschoss, bis 3. Januar 2016. Kuratorenführungen am 6.8., 12.00; 7.8, 19.00 und am 27.8., 12.00. Infos unter www.hamburger-kunsthalle.de