Ausgangspunkt des Romans „Die Chance“ des Amerikaners Stewart O’Nan ist eine gescheiterte Ehe. Aber eine Notsituation lässt das Paar wieder näher zusammenrücken – wenn auch nur widerwillig.

Sie haben eigentlich keine Chance, aber sie wollen sie nutzen. Marion und Art Fowler sind schon lange verheiratet. Dreißig Jahre nach ihrer Hochzeitsreise führt sie der gemeinsame Weg wieder dorthin, wo alles begann: an die Niagarafälle. Aber ihre Stimmung könnte kaum schlechter sein. Sie haben sich auseinandergelebt und Affären gehabt. Jetzt plagen sie enorme finanzielle Schwierigkeiten. Beide nehmen an, dass sie demnächst Insolvenz anmelden müssen. Das Haus, das ohnehin zu teuer für sie war, Art aber trotzdem für Marion gekauft hat, werden sie wohl loswerden. Hier haben sie auch ihre beiden Kinder großgezogen.

Weil ihr finanzieller Ruin unabwendbar scheint, werden sie zu seltsamen Glücksrittern. Sie buchen im Casino eine viel zu teure Hochzeitssuite, obwohl ihr gemeinsames Glück eigentlich nur noch eine ferne Erinnerung ist. Sie schmuggeln US-Dollar über die Grenze, weil sie versuchen wollen, im Casino einen Coup zu landen. Aber schon bei der Anreise ist ihr Bus in einen Unfall verwickelt. Sie überstehen ihn unverletzt.

Art ist immer noch um Marion bemüht. Sie lässt seine Annäherungsversuche aber meist abperlen. Sie kritisiert an ihm herum, macht ihn auf seine Unzulänglichkeiten aufmerksam. „Sie war nicht in ihn verliebt, jedenfalls nicht so, wie sie es von sich erwartete. Sie war auch nicht mehr in Karen verliebt, falls das je so gewesen sein sollte. Sie war in niemanden verliebt, schon gar nicht in sich selbst. Irgendwann, nachdem die Wechseljahre sie ihres körperlichen Verlangens beraubt hatten, war sie zu der Überzeugung gelangt, dass die großen Regungen in ihrem Leben der Vergangenheit angehörten und sie hatte sich der Trägheit der mittleren Jahre überlassen – anscheinend verfrüht.“ Was für eine traurige Zustandsbeschreibung!

Aber ihre Notsituation lässt das Paar wieder näher zusammenrücken – wenn auch nur widerwillig. „Gemessen an der Gesamtgröße der Suite, war das Schlafzimmer klein. Jeder zog sich auf seiner Seite Bettes um, und beide versuchten, sich nicht in die Quere zu kommen, ein Ballett der Anpassung. Eines der größten Privilegien in seinem Leben war, ihr beim Entkleiden zusehen zu können. Wie oft hatte sie ihn gebeten, es nicht zu tun.“

Aber dann fangen sie doch an, die Annehmlichkeiten des für sie im Grunde unverdienten Luxuslebens ein wenig zu genießen. Scheinbar widerwillig macht sie ihm Zugeständnisse. Sie besichtigen mit zweifelhaftem Erfolg die Wasserfälle. Und an zwei aufeinander folgenden Abenden gehen sie ins Casino an den Roulettetisch. Art, der immer gut in Mathematik war, hat natürlich einen Plan, wie sie den Saal als Gewinner verlassen könnten. Dabei weiß man doch, dass es im Glücksspiel ein ungeschriebenes Gesetz gibt: Am Ende gewinnt immer die Bank.

Die Romane von Stewart O’Nan sind nicht arm an Unglücksfällen oder Katastrophen. In „Die Chance“ ist seine Ausgangssituation eine havarierte Ehe. Geschickt und mit oft bittersüßen Details versteht er es, die Sympathie für seine Protagonisten in der Balance zu halten. Vor diesem Hintergrund lotet er die Zusammenhänge zwischen dem emotionalen und dem Glück des Zufalls aus. Durch eine Anhäufung kleiner, für sich genommen vielleicht überwindbarer Umstände, steuert die von ihm beschriebene Ehe taumelnd auf ihre Zerstörung zu.

Wahrscheinlichkeitsrechnungen sind den einzelnen Kapiteln vorangestellt

Der recht kurze Roman ist vielleicht nicht O’Nans stärkstes Werk, aber er erzählt geschickt und konzise. Der Autor von „Engel im Schnee“ und „Das Glück der anderen“ hatte zuletzt „Emily, allein“ über eine 80 Jahre alte Frau in Pittsburgh veröffentlicht. Seine spielerische Seite hatte er zusammen mit Stephen King in ihrem gemeinsamen Buch über Baseball ausgelebt. Auch an einem Sachbuch hat der sich erprobt: „Der Zirkusbrand“. Hier schafft er mit leisen Tönen und einer überwiegend unspektakulären Handlung viel Sympathie für die fast schon Resignierten. O’Nan lässt seine Charaktere nicht im Stich. Der Autor ist gelernter Flugzeugingenieur und kennt sich offenbar immer noch gut mit emotionalen Höhenflügen und Abstürzen aus

Den einzelnen Kapiteln hat O’Nan Häppchen aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorangestellt. „Wahrscheinlichkeit, dass ein amerikanischer Tourist die Niagarafälle besucht: 1:195“. Die Wasserfälle sind das Reiseziel für Flitterwöchler. Kein Wunder, dass er sie angesichts der angekühlten Beziehung als überwiegend eingefrorene Attraktion beschreibt. Über dem Kapitel mit dem Unfall steht: „Wahrscheinlichkeit, bei einem Busunglück ums Leben zu kommen: 1:436212“. Viele dieser Zeilen sind beziehungsrelevant: „Wahrscheinlichkeit am Valentinstag das Frühstück ans Bett gebracht zu bekommen: 1:4“. Dem Roman hat er einen Songtext von Dinah Washington vorangestellt, in dem es um ein Glücksrad geht.: „Oh, Glücksrad“, heißt es darin. „Ich hoffe irgendwie, wenn du mich jemals anlächeln solltest, lass es bitte jetzt sein!“ Das hoffen auch Marion und Art. Im Original hat der Roman übrigens den Untertitel: „eine Liebesgeschichte“.

Am 11. September liest Stewart O’Nan im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals auf der „Cap San Diego“. Beginn 21 Uhr.

Stewart O’Nan: „Die Chance“, Dt. von Thomas Gunkel, Rowohlt, 224 S., 19,95 Euro