Country im Herzen, Jazz im Kopf und in den Fingern: Der Bassist Charlie Haden ist im Alter von 76 Jahren in Los Angeles gestorben
Hamburg. Wenn es ein Vermächtnis gibt, das Charlie Haden, der wohl vollkommenste Bassist der amerikanischen Musik, hinterlassen hat, dann ist es der Appell zur Schönheit. Dass das Leben, insbesondere das Leben eines Künstlers, dazu bestimmt sei, Schönheit hervorzubringen, sie zu stärken, zu pflegen und zu feiern: Dafür hat er gespielt, dafür hat er sich auf seinem Instrument, dem Kontrabass, auf der Bühne und im Tonstudio mit den Jahren immer mehr zurückgenommen, im Wissen, dass die Wärme, Intensität und singende Konstanz seiner sparsamen Linien noch jeder Musik zu größerem Reichtum verhalf. Am vergangenen Freitag ist Charlie Haden, der große Melodiker der tiefen Töne, im Alter von 76 Jahren in Los Angeles seiner langen Krankheit erlegen.
Anders als die Mehrzahl der Jazzmusiker war Haden kein Metropolenkind. Er kam am 6. August 1937 in Shenadoah, Iowa, zur Welt, in der Midwest-Pampa zwischen North Omaha, Des Moines und Kansas City. Und wenn man von jemandem sagt, das Singen sei ihm in die Wiege gelegt worden, so gilt dies für Charlie Haden auch diesseits des Metaphorischen. Die Eltern hoben schon den Zweijährigen vors Mikrofon ihrer Radioshow, in der sie gemeinsam mit Charlies drei älteren Geschwistern Countrysongs sangen. Bald zog die Familie weiter nach Süden, nach Springfield in Missouri. Die Radioshow aber blieb, und all die Großen aus Nashville wie Hank Williams, die Carter Family oder die Delmore Brothers, die in den 40er-Jahren in Springfield zu tun hatten, kamen bei den Hadens im Studio vorbei, manche auch bei ihnen zu Hause.
Harmonie und Schönheit, zumindest in der Musik, prägten seine Kindheit. Bis er 15 war, ging Charlie Haden jeden Morgen vor der Schule ins Radio zum Singen. Dann bekam er Polio, die linke Kehlkopf- und Gesichtshälfte waren ein Jahr lang gelähmt. Singen und Sprechen unmöglich. Als Nerven und Muskeln wieder lebendig wurden, hatte er mit dem Singen abgeschlossen. Denn in den Monaten der Verstummung hatte Charles Edward Haden einen ganz anderen Thrill für sich entdeckt: Charlie Parker und den Jazz. Das war kaum die Musik, die sein Country-singender und -liebender Vater goutierte. Auch die Mutter tat sich schwer. Aber sie begleitete ihren Jüngsten zur Greyhound-Busstation, als der sich, nachdem er genug Geld zusammengespart hatte, mit Sack und Bass auf den Weg von Springfield nach Los Angeles machte. Dort traf er früh auf den Jazz-Outlaw Ornette Coleman, einen Texaner mit Plastiksaxofon, schmiss die Musikschule und begann eine Laufbahn, die für Außenstehende aussehen musste wie der denkbar größte stilistische Pendelausschlag – vom beschaulichen Country zum wüsten, vermeintlich amelodischen Free Jazz.
Doch Haden war weder ein Country-Abtrünniger, der die Schönheit der Melodie verriet, noch neigte er dem beinharten Free Jazz zu, selbst wenn er an Ornette Colemans Album „Free Jazz“ (1960), dem das berüchtigte Genre den Namen verdankt, als zweiter Bassist neben Scott LaFaro beteiligt war. „Als ich anfing, Bass zu spielen, ging aller Gesang ins Instrument“, erzählte er mir vor Jahren. Hadens Radikalität manifestierte sich eher in Gesinnung und Repertoirewahl als in seinem Spiel. Im Liberation Music Orchestra erweckte er ab 1969 in Arrangements von Carla Bley Arbeiterlieder zu neuem Leben, etwa Hanns Eislers Einheitsfront-Lied, und Lieder aus dem spanischen Bürgerkrieg. In dieser Band bündelten sich die kreativen Kräfte vieler, die gegen den Vietnamkrieg waren, noch lange über dessen Ende hinaus. Nicht immer stimmte dabei die Balance zwischen dem, was der Leader auf der Bühne tat, und den Beiträgen der Mitspieler. So erging sich Haden bei einem Konzert des Liberation Music Orchestra in der Hamburger Fabrik 1987 in ebenso ausufernden wie ereignisarmen Soli, derweil seine erlesene Schar von Begleitern untätig auf der Bühne saß.
Hadens Wille zur Schönheit wurde spätestens Ende der 80er-Jahre unüberhörbar. Nachdem er aus New York zurück nach Los Angeles gezogen war, widmete er sich im Quartet West mit drei Mitspielern an Klavier, Saxofon und Schlagzeug dem Erbe vergessener Sängerinnen wie Jeri Southern oder Jo Stafford, die in den 40er-Jahren an der Westküste einen Jazz in sanften Sepia-Tönen zwischen Berührbarkeit und Eleganz kreierten. Filmmusik, etwa aus Howard Hawks’ „The Big Sleep“, Hadens erklärtem Lieblingsfilm, verwandelte das Quartet West zur Folie diskret zeitgenössischer Übermalungen, wobei manchmal durchaus Spuren des Originals hörbar blieben. Im Sommer 1989 ermöglichte ihm das Montreal Jazz Festival acht Konzerte in acht Besetzungen, überwiegend in Trios. „Ich bin im Himmel – jeden Abend!“, rief er damals mit seiner überraschend hellen Stimme dem Publikum zu. Er spielte mit Joe Henderson und Don Cherry, mit Gonzalo Rubalcaba und Pat Metheny, mit Egberto Gismonti und Paul Bley – quer durch die Genres und Generationen. Verbindendes Element all dieser Begegnungen und unzähliger weiterer, etwa mit dem Tasten-Senior Hank Jones, mit Michel Brecker oder Keith Jarrett, blieb, was in einem von Hadens Albumtiteln schlicht „The Art of Song“ heißt: Die Kunst des musikalisch verdichteten Erzählens. Eine Kunst, die, signifikant für sein Schaffen, bei Charlie Haden fast immer frei von Worten blieb. Erst auf „Rambling Boy“ (2008) erhebt er seine Singstimme noch einmal, zart, süß, sacht brüchig und irgendwie alterslos: „Oh Shenandoah“. Inniger und schöner hat spätes Heimweh selten geklungen.