Jazzessence, die neu formierte Jugendbigband des Landesmusikrats, spielt unter ihrem neuen Leiter, dem Überflieger Lars Seniuk, in Shanghai
Hamburg. Erst vor rund zwei Monaten, Mitte Mai, erging in den kleinen Zirkeln der Hamburger Jazzwelt ein Aufruf an Musiker im Alter von bis zu 25 Jahren, sich als Mitspieler im komplett neu zu formierenden Landesjugendjazzorchester Jazzessence zu bewerben. Auf dem Formblatt stand unter der Überschrift „Was erwartet dich bei Jazzessence?“ ein Hinweis, der manchen Nachwuchsjazzer besonders beflügelt haben dürfte. „Für den 7.7. bis 16.7.14 ist eine Tour nach Shanghai mit Probentagen, Workshops und Konzerten in Planung“, stand da zu lesen.
Vielleicht wäre es auch ohne den Lockruf nach Asien ein Leichtes gewesen, in kurzer Zeit eine niegelnagelneue Bigband-Besetzung aus Hamburger Nachwuchsjazzern in Topqualität zusammenzustellen. Aber Musiker gehören zum fahrenden Volk, und wem, zumal in so jungen Jahren, gleich als erster Ausflug mit einer neuen Band die Chance zu einer Tournee nach China winkt, der wäre schon mit dem Klammerbeutel gepudert, wollte er da nicht schnellstmöglich die geforderte Demo-CD einsenden, um zum Probespiel am zweiten Juniwochenende eingeladen zu werden. Am heutigen Freitag ist die Reise schon längst in vollem Gang. Vergangenen Montag flogen 30 Hamburger – die Musiker der runderneuerten Jazzessence mit ihrem neuen Leiter Lars Seniuk und ein paar Begleitern – über Frankfurt nach Shanghai, um dort sogar zwei Tage länger als ursprünglich geplant zu proben, zu konzertieren, die andere Kultur kennenzulernen und auch mit lokalen Musikern zu spielen. Die Hamburger sind Gäste des Sommerfestivals MISA (Music in the Summer Air), das eigentlich seinen Schwerpunkt auf europäische Klassik legt. Aber ein bisschen Jazz kann nicht schaden, dachten die Veranstalter wohl, und das Programm, mit dem Jazzessence die Chinesen aus dem Häuschen zu spielen hofft, besteht schließlich aus lauter gut abgehangenen Klassikern: „Swingin‘ hard – the music of Count Basie and Sammy Nestico“.
Rückblende. Freitag, 4. Juli, vormittags. Im rundum durch rote Samtvorhänge vor allzu viel Schallemission geschützten Saal des Theaters im Zimmer an der Alsterchaussee sitzen 17 junge Musiker und pflügen sich erstaunlich schmissig durch „Night Flight“, eine programmgemäß hart swingende Nummer von Sammy Nestico, den großen Komponisten und Arrangeur der Count Basie Band. „Superschöne Nummer, sehr gut gelesen“, lobt Lars Seniuk den Jungfernflug seiner Mannen – bis auf die Pianistin Anna Wohlfarth sind in der Startformation der neuen Jazzessence keine Frauen.
Der Dirigent, der mit seinen gerade 25 Jahren selbst noch sehr jugendlich wirkt, und die Band arbeiten so professionell und konzentriert miteinander wie in einem klassischen Orchester. Hier wie dort geht es beim gemeinsamen Musikmachen zuerst um die richtigen Noten („Bei mir steht ein ,b‘, soll das so?“, oder „Auf meiner Kopie ist die unterste Zeile abgeschnitten“). Und danach um das richtige Verhältnis zwischen lauten und leisen Stellen, um Tempofragen, Atem, Spannung und Phrasierung. „Auf den langen Noten wünsche ich mir von den Saxofonen ein Vibrato bis zur Geschmacklosigkeit“, sagt Seniuk, oder „Blech, können wir bitte superzickig spielen in Takt 13?“, und die angesprochenen Bläser, sie liefern prompt.
Wüsste man nicht, dass sich die Besetzung erst ganz frisch zusammengefunden hat: Das musikalische Niveau lässt keinen Augenblick glauben, hier halte eine Nachwuchstruppe ihre allererste Probe ab. Lars Seniuk ist der dritte Leiter von Jazzessence, seit die Band 1988 vom Landesmusikrat Hamburg ins Leben gerufen wurde. Im April übernahm er den (im Jazz nahezu immer imaginären) Taktstock von Nils Gessinger, der im März nach 17 Jahren im Dienste der swingenden Jugend Hamburgs den Ausstieg brauchte.
Seniuk, in Norderstedt geboren und aufgewachsen, hat in Berlin Trompete studiert, ist in Klassik wie Jazz gleichermaßen firm und selbst derzeit noch Masterstudent in Komposition an der Hochschule für Musik und Theater. Gleichzeitig unterrichtet er Bigband und Satzspiel an der Musikhochschule Leipzig, coacht die Trompeter des Berliner JugendJazzOrchesters und unterrichtet Profitrompeter aus Sinfonieorchestern. Von denen haben manche so viele Dienstjahre auf dem Buckel wie er Lebensjahre.
Könnte sein, dass dieser Lars Seniuk, der sich für Vierteltöne in der Neuen Musik genauso begeistern kann wie für Count Basie, Jazzessence auf eine neue Stufe hebt. Zwei Arbeitsphasen pro Jahr will er durchführen. Im Herbst geht es mit „Greetings from New York – The Music of Thad Jones and Bob Brookmeyer“ näher an die Gegenwart.
Seniuk sieht Jazzessence als Brücke zwischen der Jugendarbeit an Schulen und Musikschulen und der professionellen Musikszene. Viele, die jetzt unter seiner Leitung in China zu einer Jugend-A-Mannschaft des norddeutschen Jazz zusammenwachsen, studieren schon Jazz, andere gehen noch zur Schule, haben den Jazz als Traumberuf aber schon fest im Blick. Erstklassige Amateure bleiben die wenigsten. Nur wenn Lars Seniuk bald sein erstes eigenes Album aufnimmt, werden nicht die Jungs von Jazzessence die Partituren spielen. Da lässt er dann doch lieber die alten Hasen der NDR Bigband ran.