Längst nicht jeder Dichter redet so bereitwillig wie Günter Grass über sein Werk
Deutschlands berühmtester Autor hat selten geschwiegen – nicht in seinen Büchern, in denen er in epischen Beschreibungen schwelgt. Nicht in der öffentlichen Debatte, die er mit stellenweise scharfen Beiträgen befeuert. In seinem Frühwerk, der „Danziger Trilogie“, schrieb Günter Grass über das kollektive Schweigen der Deutschen; über das, was in der NS-Zeit geschehen war. Er selbst schwieg auch Jahrzehnte und machte seine Mitgliedschaft in der SS erst 2006 in dem autobiografischen Werk „Beim Häuten der Zwiebel“ öffentlich.
Davon abgesehen war Zurückhaltung nie eine Kategorie, die in Bezug auf Grass passte. Im Gegenteil, sein Didaktik-Seminar für schleswig-holsteinische Lehrer, die ihren Schülern laut Lehrplan literaturtheoretische und geschichtliche Aspekte anhand der Novelle „Im Krebsgang“ vermitteln sollen, ist typisch für den kontaktfreudigen Grass.
Der war immer schon das Gegenteil des scheuen Dichters, der nur seinen Text sprechen lassen will und hinter sämtlichen poetischen Äußerungen vornehm zurücksteht. Grass war stets eine öffentliche Figur, er machte Wahlkampf für die SPD – und sprach gern bereitwillig über sein schriftstellerisches Werk.
Die Neigung, auf das Lesepublikum zu treffen, hat keinem Dichter geschadet
Noch bis vor wenigen Jahren reiste Grass regelmäßig zu den Programmkonferenzen seines Verlags. Bei Steidl in Göttingen kam der Nobelpreisträger dann mit den Verlagsvertretern zusammen, um über sein neues Buch und über literarische Fragen zu sprechen; eine Zugewandtheit, die nicht alltäglich ist im Literaturbetrieb. Als prominentem Autor mangelte es Grass nie an Einladungen. Meistens waren ihm die Fragesteller gewogen, und er wäre ein seltsamer Autor, würde das öffentliche Sprechen über Grass-Texte in Gegenwart des Autors selbst nicht auch sein Ego streicheln.
Man ginge aber fehl in der Annahme, erhöbe man dies zum eigentlichen Ziel. Grass’ Offenheit und seine Publikumsnähe zeigt sich auch in den seit 2005 in Lübeck stattfindenden Workshops, in denen er mit Autoren der jüngeren Generationen Werkstattgespräche führt und anschließend mit Schriftstellern wie Sherko Fatah, Nora Bossong und Benjamin Lebert Lesungen veranstaltet.
Eine gewisse Neigung, auf das Lesepublikum zu treffen, hat noch keinem Dichter geschadet. Ausgedehnte Lese-reisen macht die Mehrzahl. Manche Autoren geben auch Schreibseminare, wobei gerade in Amerika die Verbindung von Autoren und Universitäten enger ist als hierzulande. Aber sein eigenes Werk bereitwillig einer Interpretation zu unterziehen, gar eine pädagogische Handreichung für die Beschäftigung im Unterricht zu geben: Das erscheint außergewöhnlich. Denn eigentlich ziehen sich Autoren mit Recht auf die Haltung zurück, mit der Interpretation des von ihnen verfertigten Textes nichts mehr zu tun zu haben. Die berühmte Frage „Was will uns der Autor damit sagen?“ kann eben am Ende am besten jeder Leser für sich beantworten: Jeder liest einen Text anders.