Der „FAZ“-Herausgeber und Publizist Frank Schirrmacher ist mit 54 Jahren in Frankfurt an einem Herzinfarkt gestorben. Er war als klassischer Feuilletonist für das junge 21. Jahrhundert eine Idealbesetzung.

Hamburg. „Frank Schirrmacher ist tot.“ Herzinfarkt, mit nur 54 Jahren. Die meisten seiner Kollegen, die am späten Donnerstagnachmittag auf ihren Smartphones in ihren Redaktionen von dieser Eilmeldung überrumpelt und erschüttert wurden, bezeichnen sich als Journalisten. Schirrmacher war viel mehr. Er war längst kein tagesaktueller Schreiber mehr, er war Publizist, Vor-Schreiber und Vor-Denker. Und besonders gern auf Karambolagekurs zur bequemen Mainstream-Meinung. Mitherausgeber, prägend und gestaltend, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, entsprechend respektiert und gefürchtet. Kein wegweisendes Thema war ihm zu groß, kein notwendiger Gedankengang zu anstrengend. Schirrmacher war als klassischer Feuilletonist für das junge 21. Jahrhundert mit seinen vielen digital getriebenen Herausforderungen und Gefahren eine Idealbesetzung. Er war der klügste Kopf.

Als Schirrmacher im Juni 2000 mehrere Seiten des „FAZ“-Feuilletons von den üblichen Rezensionen und Lesestücken für den Abdruck von DNA-Sequenzen freiräumte, um die Entschlüsselung des menschlichen Genoms zu würdigen, war der Rest der Branche zunächst verwirrt und danach neidisch – weil Schirrmacher der Erste war, der sich so etwas Radikales tatsächlich traute. Sein Kulturbegriff ließ sich nicht nach Sparten einzäunen. Er wollte Debatten. Diese „Gattaca“-Aktion war nur eine von vielen, mit denen der vermeintliche Bücherwurm Schirrmacher sich gekonnt ins viel weitere Feld der Gesellschaftskritik hinein bewegte und politische Diskurse auf Trab brachte, die nichts mit Elfenbeinturm-Grübeleien zu tun hatten. Seine intellektuelle Brillanz konnte furchterregend sein, im Redaktionsalltag soll der Umgang mit „FS“ mitunter deutlich oberhalb von anstrengend gewesen sein.

Als der Germanist Schirrmacher 1985 ins „FAZ“-Feuilleton kam, galt er fast noch als Wunderkind. Zwei Jahre später schloss er die nebenbei geschriebene Promotion über Kafka und Bloom ab und ließ sich nicht aufhalten. Vier Jahre später übernahm er die Nachfolge von Marcel Reich-Ranicki für „Literatur und literarisches Leben“. Da war es nur konsequent, dass er sich 2002 dem Vorabdruck von Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ verweigerte, in dem mit Reich-Ranicki abgerechnet werden sollte. Schirrmacher war es auch, dem der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass 2006 über dessen Mitgliedschaft in der Waffen-SS berichtete. Seit 1994 saß Schirrmacher als Mann für die Kultur im Herausgeber-Olymp. Damit war endgültig klar: Wo Frank Schirrmacher war, war nicht nur oben, sondern auch ganz weit vorn.

In seinen Sachbüchern, die trotz ihrer komplexen Thesendichte allesamt zu Bestsellern wurden, befasste Schirrmacher sich nur mit den ganz großen Themen. Themen, die alle angehen, obwohl viele es nicht wahrhaben wollen. Jedes war eine Streitschrift, geschrieben, um zu stören: Im „Methusalem-Komplott“ warnte er vor den Folgen einer vergreisenden Gesellschaft. „Minimum“ thematisierte den Wandel des Gesellschaftsformats Familie und die bleibenden Werte dieser Beziehungen. Vor vier Jahren erschien „Payback“ mit dem ebenso weitsichtigen wie kämpferischen Untertitel „Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen“. Sein letztes Buch „Ego“ (2013) war die logische Konsequenz dieser Schadensanalyse: Darin legte er sich mit jenen Mächten und Strukturen an, die von einem vermeintlichen Konservativen wie ihm keine Angriffe erwarteten. Doch Schirrmacher war ein Wertkonservativer, den die Nachbeben der Finanzkrisen und der Turbokapitalismus ängstlicher und wütender machten, als er selbst es in jüngeren Jahren erwartet hätte. Egoismus fressen Seele auf war seine These. Der „Homo öconomicus“ war für ihn ein Ungetüm, das gnadenlos über seine börsennotierten Schöpfer herfällt.

Schirrmacher beherrschte nicht nur die publizistische Langstrecke, er genoss auch die Gedanken-Sprints auf Twitter. Seine letzten Nachrichten dort drehten sich um das Internet-Journalistenprojekt „Krautreporter“, den Komponisten Richard Strauss, die Großer-Bruder-Satellitenpläne von Google und den Krieg gegen den Terror im Irak. Eine für ihn typische Mischung, weil sie keinen Unterschied macht zwischen Schöngeistigem und Scharfsinnigem. Frank Schirrmacher wurde gestern mitten auch aus unserem Leben gerissen.