Mit ihrer Plattenfirma veröffentlichen Henning Mues und Tammo Kasper Musik jenseits des Gefälligen. Zu hören auf dem Sampler „Keine Bewegung!“, der gemeinsam mit dem Berliner Label Staatsakt entstand.

Hamburg. „Keine Bewegung!“ Das ist ein Ausruf, den Kinder gern verwenden, wenn sie Räuber und Gendarm spielen. Sie probieren aus, was gut ist und was böse. Und langsam wächst die Ahnung, dass es viele Dinge gibt, die zwischen Schwarz und Weiß liegen.

Selten möchten sich Menschen in eine Schublade stecken lassen. Meistens wollen sie auch nicht direkt als Bewegung bezeichnet werden, nur weil sie ähnliche Dinge tun. Wenn sie zum Beispiel Musik machen, die kritisch ist und klug, radikal und romantisch, die nervös ist und auch mal nervt. Die jedoch all dies nicht ist: langweilig, formatiert, beiläufig.

Unter dem Motto „Keine Bewegung!“ hat die Berliner Plattenfirma Staatsakt nun gemeinsam mit dem jungen, sehr regen Hamburger Label Euphorie einen Sampler herausgebracht, auf dem sich 15 Bands aus dem deutschsprachigen Raum präsentieren.

„‚Keine Bewegung!‘ ist ein Titel, der mit sich selbst streitet“, sagt Henning Mues. „Einerseits ist der Sampler durchaus eine Momentaufnahme der hiesigen Undergroundkultur. Andererseits hat man zum Beispiel damals bei der ‚Hamburger Schule‘ gemerkt, dass viele Bands unter diesem Begriff einfach recht dominant eingeordnet wurden.“ Gemeinsam mit Tammo Kasper, mit dem Mues seit zwei Jahren Euphorie betreibt, sitzt er am Küchentisch, raucht und redet. Sonnenschein fällt von einem Hinterhof auf St. Pauli durchs Fenster, beleuchtet den Qualm der Zigaretten, der sich kunstvoll kräuselt und dann diffus verflüchtigt.

Beide kennen sich, weil sie zusammen bei Zickzack gearbeitet haben – jenem Hamburger Plattenlabel, das 1980 von Alfred Hilsberg gegründet wurde, seines Zeichens Wegbereiter zahlreicher deutschsprachiger Avantgarde-Bands von der Neuen Deutschen Welle bis eben zur sogenannten Hamburger Schule. So schließt sich der Kreis. Und öffnet sich zugleich. Denn das Euphorie-Konzept ist ein flexibles, wie Kasper und Mues betonen. „Wir veröffentlichen nicht nur Musik, sondern wollen Künstlern in erster Linie eine Plattform bieten. Wir übernehmen zum Beispiel auch das Management für eine Band. Am wichtigsten ist aber, dass da Personen hinterstehen, mit denen wir uns gerne anfreunden, treffen und austauschen. Menschen, die einander Gehör verschaffen“, erklärt Mues mit ruhigem und zugleich entschiedenem Tonfall.

Er trägt Pulli, Jeans, Kurzhaarschnitt und sieht damit weder besonders rock-’n’-rollig noch hip aus. Kasper wirkt mit seinem längeren Haar über rasierten Seiten ein wenig wilder. Aber beide strahlen keinen zwingenden Distinktionswillen aus. Ihre Haltung transportiert sich eher über das Wort, über ihre Leidenschaft für Sound, vor allem aber über eine gewisse kollektive Wärme, mit der sie ihre Sache betreiben.

Momentan gehören zu ihrem Euphorie-Verbund drei Hamburger Bands, die allesamt auf „Keine Bewegung!“ zu hören sind. Das Rocktrio Trümmer, in dem Kasper Bass spielt. Das Duo Zucker, dessen Pop-Trash-Hymnen kurzen Prozess machen mit Heuchelei und Mucker-Attitüde. Und das Quintett Der Ringer, das flirrende Gitarren mit Elektronika kreuzt und so ein Driften und Drängen produziert, das den Hörer mit einer beglückenden Unruhe zurücklässt. Die Euphorie-Songs sind schöne Störenfriede. Wie alle Stücke auf dem Sampler. Sei es nun Punk, Rock oder Electro.

Etablierte Künstler wie der Berliner Pop-Dandy Jens Friebe und die Rumpelrocker Chuckamuck, die das Wütende und Irritierende bereits seit Jahren praktizieren, üben da ganz bewusst den Schulterschluss mit unbekannteren Bands wie Schnippo Schranke und Messer. Den Stücken ist gemein, dass sie unzufrieden brodeln, ohne spaßbefreit zu sein. Und dass sie Themen jenseits des Gefälligen ansprechen. Die Österreicher Ja, Panik etwa loten in ihrem Beitrag für „Keine Bewegung!“ das Gefühl des Fremdseins aus. Ihr Song erzählt davon, die eigene Handynummer zwischen Bosporus und Lampedusa zu verkünden und so konkret Hilfe anzubieten. Türen öffnen, neue Zusammenhänge herstellen.

„Ist das alles? Wo ist die Euphorie?“, fragt wiederum die Band Trümmer. Ein Verzweiflungsschrei in einer Gesellschaft, die durch die Eventkultur allmählich zum Erliegen gebracht wird. „Die Stadt zerfällt in ihre Einzelteile“, proklamiert Sänger Paul Pötsch. Seine Wohnung im Süden St. Paulis ist zu so etwas wie der Euphorie-Factory geworden. Ein Treffpunkt, der näher am Geschehen liegt als das Label-Büro in Hamm. Näher zum Beispiel am Golden Pudel Club am Fischmarkt, wo das Kollektiv einmal im Monat zu Konzertabenden mit befreundeten Bands lädt.

„Der Pudel ist einer der wenigen wirklichen Freiräume der Stadt“, erklärt Kasper. Darum geht es immer wieder. Um Orte, die nicht gewollt auf Kreativzentrum designed sind. Die eine Atmosphäre bieten, in der Spannendes geschieht und gedeiht. Wie in Pötschs Wohnung. In seiner Altbauküche werden die Künstler bekocht, es finden Fotosessions statt, bis in die Nacht wird Kunst diskutiert und gemacht. Dass ihm seine Wohnung nun zum Juli gekündigt wurde, verärgert und bedrückt den Musiker. Vermutlich steht eine Sanierung an. Gentrifizierung im vermeintlichen Gefahrengebiet. Die Probleme, die in zornige Songs münden können, sie sind keine Fiktion. Und vielleicht schweißen sie dann doch zusammen. Zu einer Bewegung.

„Keine Bewegung!“ Der Sampler ist erschienen

bei Staatsakt/Euphorie, erhältlich als Download

sowie als Vinyl (LP + 7"), u. a. in der Hanseplatte,

Neuer Kamp32; woistdieeuphorie.com