Die Staatsoper zeigt Händels „Almira“, von der aktuell nur eine CD-Einspielung existiert. Wieso wirkt Alte Musik heute wieder so neu und faszinierend? Eine Spurensuche.
Hamburg. Schon wieder Mozart, immer nur Wagner, wenigstens ein Rossini, und wirklich noch ein Puccini? Die Frage nach den vorherrschenden Geschmacksrichtungen auf dem klassischen Repertoire-Büfett mag ketzerisch klingen, schließlich sind diese Opernkomponisten weit über jeden Zweifel erhaben. Mit denen macht man nichts falsch. Eigentlich. Doch was ist der gefühlt 37. „Don Giovanni“, bei dem wohlfeil verführt, gelitten und vom Schicksal gelernt wird, gegen eine Opernrarität aus dem Barock, der Logik im Handlungslauf völlig egal ist? Was bietet der x-te vertraute Verdi gegen das irre, verwirrende, aufregende Gefühl, mit etwas total Neuem konfrontiert zu werden, das schon sehr alt ist? Der Vorhang hebt sich, die Show beginnt und es stehen mythologisch überhöhe Gestalten aus einer anderen Welt auf der Bühne. Irgendwelche antiken Adligen, die mühelos eine Viertelstunde damit verbringen können, sich wieder und wieder ihrer eigenen Leidenschaften zu versichern, während um sie herum die Zeit stillsteht und selbst die Götter die Luft anhalten, bevor sie das Happy End vom Himmel schicken. Für solche Momente im Paralleluniversum aus Koloraturen und Affekten, die gern mehrere Stunden dauern können, ist das Musiktheater immerhin erfunden worden.
Die Händel-Festspiele in Karlsruhe wurden überrannt von Karten-Interessenten, als sie erstmals barocke Opern-Antiquitäten mit der vollen historischen Pracht auf die Bühne brachten. Im weichzeichnenden, romantisch verklärenden Kerzenschein und prunkvollen Kostümen, vor allem aber mit den kunstvoll abgezirkelten Posen und der Gestenrhetorik, die dem Publikum im frühen 18. Jahrhundert ohne Worte mitteilen konnte, was das Geschehen auf der Bühne bedeutet. Männer, die wie Frauen klangen, sangen bravouröse Divenpartien. Ihre Kastratenstimmen wurden auf dem Opern-Transfermarkt jener Jahre so teuer gehandelt wie heutzutage Top-Fußballer. Und je besser die zwitschernden Herren mit den monströs großen Brustkörben waren, desto gefürchteter waren ihre Launen.
Dass die Staatsoper jetzt wieder, nach längerer Abstinenz, an die musikalische Tradition und Bedeutung der Gänsemarkt-Oper erinnert, ist theoretisch ebenso erfreulich wie praktisch überfällig. Nach Telemanns „Flavius Bertaridus“, der eher nicht zu den Hauptwerken des berühmten Hamburger Musikdirektors zählt, steht eine Premiere von größerem musikhistorischen Kaliber an: Händels „Der in Krohnen erlangte Glücks-Wechsel, Oder: Almira, Königin von Castilien“. Die erste Oper, die der noch nicht mal 20 Jahre junge Tuttigeiger 1705 für die Musikbühne am Gänsemarkt lieferte. Seine einzige aus dieser Lehrzeit in Hamburg, die aufführfähig erhalten blieb. Die erste Händel-Oper, in der das Thema von einem seiner vielen späteren Hits anklingt: Eine Sarabande hat deutliche Ähnlichkeit mit der sechs Jahre später vollendeten „Rinaldo“-Arie „Lascia ch'io Pianga“; diese Sarabande wird nun zum „Leitmotiv“ für Almira. Für die 2014er-Version wurde das Material um 45 Minuten auf etwa drei Stunden Spieldauer gekürzt, Arien wurden von da nach dort geschoben. Rezitative gestrafft.
Anno 1705 war Händel jung und wollte den Erfolg. So komponierte er auch. Er wollte die Chance nutzen, sich am ersten bürgerlichen Opernhaus auf deutschem Boden einen Namen zu machen. Deswegen bediente er den Publikumsgeschmack mit Tanzeinlagen und rustikalem Nebenrollen-Klimbim. Händel schrieb nicht für die Ewigkeit, an die er damals nicht dachte, sondern für den Markt, für Angebot und Nachfrage.
Diese Rechnung ging auf, denn das hiesige Publikum war angetan von dem Opern-Azubi aus Halle. Den Fernando sang damals übrigens Johann Mattheson. Mattheson war ein typisch barocker Multitasker, der nicht nur sang und spielte, sondern auch selbst komponierte und ein für seine spitze Feder gefürchteter Autor war.
Die Faszination des Neu- und Wiederentdeckens aus der Zeit von Händel und Mattheson ist längst auch ein lukrativer Teilmarkt der Klassik-Branche: Spätestens nachdem Cecilia Bartoli sich von den Mozart- und Rossini-Rollen verabschiedet hatte, um Vivaldi, Gluck oder zuletzt den großen Kleinmeister Steffani ins Rampenlicht ihrer Popularität zu stellen, gab es kein Halten mehr für die Schatzsucher in den Archiven. Arien von der Stange sind nur noch etwas für Anfänger. Wer wirklich punkten will, muss Unikate liefern, auf denen noch der adelnde Staub der Jahrhunderte liegt wie wertsteigernde Patina auf einem Caravaggio-Gemälde. Jeder Regisseur, der es heutzutage ernsthaft wagen würde, eine Wagner-Oper mit Nibelungentreue und Bärenfell-Kostümen zu inszenieren, würde wohl von vielen Kritikern abgemahnt werden, weil das Ewiggestrige in Werken dieser Epoche ein absolutes Tabu ist. Für Barockes jedoch gelten andere Wertungsmaßstäbe. Regietheater-Therapiesitzungen sind hier kaum machbar, dafür ist zu viel Lametta für Augen und Ohren auf der Bühne.
Längst ist es auch kein Problem mehr, kompetente Interpreten für diese Musik zu finden, die so anders ist, aber doch auch so nah und direkt vertraut, weil sie so hemmungslos subjektiv ist, und so überwältigend theatralisch. In ganz Europa, vor allem in Frankreich, haben sich junge Spezialensembles am Markt etabliert, denen der Dienst nach Vorschrift in irgendeinem Beamtenorchester zu fade ist. Sie beherrschen Instrumente, die viel kniffliger und klanglich subtiler sind als ihre perfektionierten Nachfolger. Dadurch sind musikalische Special Effects möglich, die kein spätromantischer Klangkörper mehr hinbekommt. Auch hier gelten inzwischen die Gesetze der modernen Marktwirtschaft: René Jacobs, lange Jahre bei kleineren Firmen aktiv, hat beim wiederbelebten „Archiv“-Label des Universal-Konzerns unterschrieben. Andere – wie der Franzose Marc Minkowski – haben es sich bei kleineren Labels sehr kommod eingerichtet und machen dort nur, was sie wollen und nicht, was sie für die Jahresbilanz liefern sollen.
Eine Statistik des Deutschen Bühnenvereins liefert erstaunliche Zahlen zu dieser Erfolgs-Musikgeschichte: In den 20 Jahren seit der Spielzeit 1991/92 sei der Anteil an Barock-Inszenierungen um 132 Prozent gestiegen, die Besucherzahlen sogar um 176 Prozent. Also stimmt heute mehr als je, was schon Mozart wusste: „Händel weiß am besten, was großen Effekt tut.“
„Almira“-Premiere: 25.5., Staatsoper. Weitere Informationen: www.staatsoper-hamburg.de