Hamburger Autorinnen und Autoren schreiben exklusiv im Abendblatt einen Fortsetzungskrimi: Ein Autor beginnt, der zweite setzt die Geschichte fort, dann übernimmt der dritte …
Wenn sie rausfuhr, die Stadt hinter sich ließ, die Häuser kleiner, niedriger wurden, die Felder kamen und sie auf die Landstraße bog – dann war das für Philine Clausen wie eine Befreiung. Alles rückte von ihr weg: das Präsidium, die Vorgesetzten, Kollegen und die Toten. Die Fähigkeit abzuschalten und einen Abstand herzustellen war wichtig für ihre Arbeit als Polizistin und ihr seelisches Wohlbefinden als Privatperson.
Im aktuellen Fall ging es nicht so richtig voran. Ehrlich gesagt, stocherten sie ziemlich im Nebel. Der These ihres Kollegen Meran, der glaubte, der Ehemann habe den Mord an Irina Jung begangen, konnte Philine noch immer nichts abgewinnen. Und als ebenso unbefriedigend empfand sie den Ermittlungsstand bezüglich der Witwe des Reeders. Dass zwischen den beiden Mordfällen eine Verbindung bestand, da gab es für Philine keinen Zweifel. Die eine Frau hatte bei einem ambulanten Hospizdienst gearbeitet, die andere bei einem häuslichen Pflegedienst, beide hatten mit Sterbenden zu tun, mit Menschen, die dem Tod geweiht waren. Das konnte kein Zufall sein. Aber wo lag das Motiv? Philine schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Sie hatte doch Feierabend und wollte jetzt nicht mehr an den Fall denken!
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Sie hielt am kleinen Supermarkt, besorgte ein Paket Spaghettini, eine Flasche Beaujolais und hatte Glück: In der Obst- und Gemüseabteilung gab es frische Auberginen. Sie bediente sich noch bei den Strauchtomaten, warf ein paar Zwiebeln in den Korb und ging zur Kasse.
Mareike, die hier schon ewig arbeitete und auf ihrem Platz hinter der Kasse alt werden würde, sagte mit ihrer schönen, sanften Stimme: „Na, Phili, heute wieder auf den letzten Drücker?“
„Hör auf. Gib mir lieber noch ein Päckchen Kaugummi.“
„Wie geht’s Susi?“
„Nichts gehört. Ich hoffe, das ist ein gutes Zeichen.“
„Ich drück die Daumen, Schätzchen.“
„Danke.“
Fünf Minuten später glitten die Scheinwerfer ihres alten Citroëns über die roten Ziegel und das Fachwerk. Sie parkte neben den Holunderbüschen und stellte den Motor ab. Kühle, frische Luft umfing sie. Sie nahm ihre Tasche, die große Tüte und schlug die Autotür zu. Der Plattenweg führte in einem Bogen an der kleinen Bank und den Rosensträuchern vorbei zur Eingangstür, die so niedrig war, dass sich hier jeder Besucher zuverlässig den Schädel rammte. Das Bauernhaus, in das sie nach vielen Jahren und der Trennung von ihrem Freund wieder zurückgekehrt war, war immer gut zu ihr gewesen. Hier hatte sie das Gefühl, geborgen zu sein.
Susi lag regungslos in ihrem Körbchen. Philine stellte die Tüte ab, ging in die Hocke, streichelte den Hundekopf und murmelte: „Mein armes, altes Mädchen – wie geht’s dir?“ Susi blinzelte schwach. Seit sechzehn Jahren gehörte der Mischlingshund zu diesem Haus, in dem nicht nur Philine, sondern auch die nächste Hunde-Generation geboren worden waren. Susi würde demnächst, wie Philines Mutter prophezeite, „nach einem langen, erfüllten Hundeleben ihren letzten Schnaufer tun“.
Philine strich vorsichtig über das graue, fast durchsichtig gewordene Fell. Sonst, wenn sie nach Hause gekommen war, hatte Susi immer mit rauer Zunge ihre Hand geleckt. Jetzt lag der Hund nur reglos da. Philine Clausen spürte, wie ihr die Tränen kamen.
*
Gesche hasste die Tiefgarage, die zu ihrer Wohnung in der Ackermannstraße gehörte, und sie hasste es, den Müll runterzubringen. Aber es half nichts. Das Zeug musste weg. Danach würde sie sich einen ruhigen Abend machen, Telefon aus, TV an, Fernbedienung in der einen, Chipstüte in der anderen Hand. Wohlgemerkt die einzige Tüte Chips, die sie sich pro Monat erlaubte. Aber nach der Aufregung der vergangenen Tage, der Angst, die so oft nach ihr gegriffen hatte, den Paranoiaschüben, war das genau das, was sie brauchte. Sie steckte den Schlüsselbund in ihre Hosentasche, griff nach dem Bio-Müll, den Tüten mit Glas und Altpapier.
Auf dem Weg zum Aufzug sah sie, dass der neue Nachbar seine Schuhe mit Schuhspanner rechtwinklig zu seiner Fußmatte abgestellt hatte. Ein Pedant also. Sie würde versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie wartete, hörte den Aufzug arbeiten, hörte ein schleifendes Geräusch, irgendwo eine Tür und betete, dass der Typ jetzt nicht rauskam. Eine Klospülung. Gesche schüttelte den Kopf. Wie hellhörig es in diesem Kasten war.
Im Fahrstuhl hatte sie vier Stockwerke Zeit, sich im Spiegel zu betrachten. In diesem Licht, tröstete sie sich, sah jeder aus wie Leiche. Endlich öffnete sich die Tür, und im Keller sprang flackernd das Neonlicht an. Schnell ging sie den schmalen Gang hinunter. Am Ende war der Zugang zur Tiefgarage, Platz für mindestens hundert Pkw, unterirdische Verbindung zu sechs Apartmenthäusern.
Die schwere Eisentür fiel dumpf hinter ihr ins Schloss. Ihre Schritte hallten auf dem glatten Beton. Zum Müllraum musste sie einmal quer durch. Rechts und links lauerten Kühlerhauben, Scheinwerfer, seltsame Schatten.
Der schwarze BMW. Schon von Weitem konnte Gesche es sehen. Reglos saß eine Gestalt auf dem Fahrersitz, vorgebeugt, als würde sie etwas lesen. Oder tot sein? Blödsinn. Sie presste die Tüten an sich. Das Glas klirrte im schnellen Rhythmus ihrer Schritte. Die Trageschlaufen schnitten sich schmerzhaft in ihre Handflächen.
Sie versuchte, mit den Tüten im Arm die Tür zum Müllraum aufzudrücken. Zugesperrt. Wegen Überfüllung geschlossen, oder was? Der Hausmeister, dieser Vollidiot. Sie schaute ängstlich über ihre Schulter. Die Tüten einfach vor der Tür abstellen?
Sie traute sich nicht. Es half nichts, sie musste die Tüten wieder hinauf in die Wohnung schleppen. Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Kleine Schritte machen. Vorbei an dem Auto. Geradeaus zu gucken. Sie war kaum an dem BMW vorbei, gerade in der Mitte der Garage, als das Licht erlosch. Finsternis.
Sie ging weiter, langsam, Schritt für Schritt, der verdammte Bewegungsmelder musste doch dafür sorgen, dass das Licht wieder ansprang. Sie stolperte über ihre eigenen Füße, fing sich und blieb stehen. Sie hörte nichts außer ihrem Atem. Und wie sich hinter ihr die Tür eines Autos öffnete.
*
Hinter Philine Clausen ging die Haustür auf. Drei Hunde kamen hereingelaufen, aufgedreht durch den Waldspaziergang, den Philines Mutter mit ihnen unternommen hatte.
„Wollt ihr wohl!“, rief Sophia, aber die Hunde ließen sich nicht bändigen. Sie sprangen an Philine hoch, bellten und jaulten und schubsten sich gegenseitig aus dem Weg. Susi, die eben noch reglos und apathisch dagelegen hatte, bewegte sich, schoss plötzlich aus ihrem Körbchen, kläffte, biss um sich und gab keine Ruhe, bis die jungen Hunde nicht jaulend das Weite suchten. Susi schüttelte sich und tapste zum Wassernapf.
Sprachlos schauten Philine und ihre Mutter sich an. Susi, eben noch dem Tod geweiht, war wieder zum Leben erwacht.
„Sie findet hier einfach keine Ruhe zum Sterben“, sagte Sophia. „Gut so.“
Während ihre Mutter zur Tagesordnung überging und ausführlich berichtete, wie sie den Fahrradschlauch geflickt hatte, begann Philine, ihre Einkäufe auszupacken, die große Pfanne bereitzustellen und das Gemüse zu waschen. Sie genoss diese Minuten, schnitt Zwiebeln und Auberginen in Würfel, das Fett brutzelte und das weiche Fleisch der Aubergine sog den Saft der Tomaten in sich auf. Philine verharrte mitten in der Bewegung. Der Gedanke war auf einmal da. Das Motiv.
Sie legte das Messer beiseite, schaltete wie in Trance alle Herdplatten herunter und setzte sich. Sie musste nachdenken.
„Hilfst du mir morgen mit den Rosen?“, fragte Sophia.
Philine stand auf. „Mama, übernimm mal bitte.“
Ohne ein weiteres Wort griff sie zum Telefon, lief die knarrende Treppe hinauf, ging in ihr Zimmer und lehnte die Tür an. Sie hörte das Freizeichen und dann Peter Merans Stimme: „Ja, bitte?“ Sein Tonfall machte deutlich, dass er eigentlich nicht gestört werden wollte.
„Ich habe das Motiv“, sagte sie.
Die Stille am anderen Ende ließ ihr Zeit sich vorzustellen, wie er als Reaktion wohl gerade misstrauisch seine Augenbraue hob.
„Na, dann leg mal los“, sagte Meran.
„Unser Mörder oder unsere Mörderin ist jemand, der mal im Sterben lag.“
Wieder Stille am anderen Ende.
„Bist du noch dran?“, fragte Philine.
„Erzähl weiter.“
„Aber der Todgeweihte ist nicht gestorben, sondern wider Erwarten genesen. Solche Fälle gibt es. Und dieser Sterbende hat möglicherweise scheußliche Dinge erlebt, die auf seine Sterbebegleiter zurückzuführen sind, verstehst du?“
„Hhm.“
„Wir müssen also bei den Patienten der beiden Opfer ansetzen und herausfinden, ob wirklich alle gestorben sind, oder…“
„Philine, hast du etwas getrunken?“
Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Ich meine es ernst.“
„Kommt mir, ehrlich gesagt, alles ein bisschen weit hergeholt vor“, murmelte Meran. „Andererseits…“
Sie horchte.
„Also gut, ich denke darüber nach.“
Bevor sie etwas antworten konnte, hatte Meran aufgelegt.
Philine Clausen hielt den Hörer in der Hand und hörte, wie Susi, altersschwach und langsam, Stufe für Stufe die Treppe heraufkletterte.
„Philine?“, rief ihre Mutter von unten. „Ist schon Salz drin?“
*
Gesche konnte keinen Schritt tun, war unfähig, sich zu bewegen. Die Dunkelheit. Die Schritte. Ihr Mund war trocken vor Angst, ihr Herz raste, und die ganze Zeit ein Knistern. Keine Panik, sagte sich Gesche. Die fremden Schritte kamen näher.
„Hallo?“, sagte eine Männerstimme. „Sind Sie in Ordnung?“
Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hörte sie sich antworten: „Ja, alles in Ordnung… Warum geht das Licht nicht an?“
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Jetzt war der Mann ganz nah. Sie konnte sein süßliches Aftershave riechen. „Dieser Bewegungsmelder ist wirklich saudumm eingestellt“, sagte die Stimme leise. „Darf ich ihnen meinen Arm reichen?“
„Nein.“ Ihre Stimme klang schrill.
„Wenn wir bei der Tür sind, geht das Licht wieder an, wetten?“
„Ich warte hier.“
In die Stille hinein sagte er: „Einverstanden.“ Dann entfernte er sich.
Das Licht ging an.
Die Gestalt, die an der Tür stand, drehte sich zu ihr um, zögerte, wünschte dann einen guten Abend und verschwand.
Das Herz von Gesche klopfte so stark, dass sie kein Wort herausbrachte. Seltsamer Typ. Das Knistern war immer noch da. Gesche schaute an sich herunter und sah die Tüten, die an ihren zitternden Fingern hingen.