Travestiekünstler Conchita Wurst ist der Publikumsliebling im Finale des Eurovision Song Contests in Kopenhagen. Deutschlands Chancen sind wohl mittelprächtig. Überstrahlt wird der Wettbewerb außerdem von der Ukraine-Krise.
Beim Eurovision Song Contest ist alles Symbol und Zeichen, auch das Wetter. Als die deutsche Band Elaiza am Donnerstag den berühmten Vergnügungspark Tivoli betrat, hatten die drei jungen Frauen in weiser Voraussicht Schirme dabei. Prompt begann es zu regnen. Als sie in einem Bötchen über einem Mini-See schipperten, tröpfelte es. Und ständig war Angstlustkreischen zu hören von Menschen, die in den Karussells saßen und gerade durch die Luft sausten. Es hilft also, sich auf Problemlagen einzurichten. Man muss aber sagen: Der ESC löst deutlich mehr Schwindel aus als der Tivoli. Und mehr Zuckerwatte ist im Spiel.
Deutschlands Chancen auf die vorderen Plätze sind so la-la-la, um im Jargon zu bleiben. Die drei Frauen von Elaiza haben mit „Is It Right“ ein gutes Lied, das seinen melancholischen Charme allerdings erst beim mehrmaligen Hören entfaltet. Diesen Sonnabendabend werden aber 26 Titel am Stück gespielt, Elaiza singt als zwölfte Band, direkt nach Conchita Wurst und vor der Pause. Erfahrungsgemäß ein schwieriger Startplatz. Eigentlich wollen alle gegen Ende der Show singen. Lena gewann 2010 mit der Startnummer 22.
Dass die Ausgangslage nicht optimal ist, weiß die deutsche Delegation. In letzter Minute wurden sogar die Dramaturgie und die Licht-Choreografie geändert, das gab es sehr lange nicht. In den ersten Proben hatten die Dänen seltsame Projektionen auf die gewaltige Bühne geworfen, Schatten von Tango-Paaren etwa, dazu fielen Luftschlangen von der Decke auf die Musikerinnen.
Das sollte eigentlich weitgehend gestoppt werden. Aus den USA wurden neue Vorschläge besorgt, es wird nun Schriften auf der Bühne geben und neues Licht, vielleicht auch eine neue Kleiderordnung. In den letzten Sekunden der ersten Final-Probe am Freitagnachmittag fielen dann allerdings doch wieder Luftschlangen auf Elaiza und bedeckten die Instrumente.
Mit Deutschland rechnet in Kopenhagen niemand so richtig. Überstrahlt wird der Wettbewerb von zwei Ereignissen, von Conchita Wurst und von der Ukraine-Krise. Der Jubel für Österreichs Kunstfigur im Glitzerkleid und Bart kannte am Donnerstagabend beim zweiten Halbfinale keine Grenzen. „The Wiener takes it all“ machte schnell als Losung die Runde.
Die schwule ESC-Fan-Gemeinde steht ganz hinter Tom Neuwirth alias Conchita Wurst aus Gmünden. Kein Teilnehmer des Wettbewerbs kann mit dieser Kombination aus Kunsthaar, Augenaufschlag und Lipgloss-Lippen aufwarten. Im Prinzip hat der 25 Jahre alte Travestiekünstler Chancen auf den Sieg. Das Lied „Rise Like A Phoenix“ ist ein ESC-gerecht überdimensioniertes Melodrama, ein Schmachtfetzen mit hohen Tönen samt Feueranimation und Windmaschine. In Westeuropa sollte das für hohe Punktezahl reichen.
Es ist lange her, dass ein verrückter Auftritt den Sieg davongetragen hat. 2006 gewannen die maskierten Finnen-Monster von Lordi mit „Hard Rock Hallelujah“. 1998 holte die Transsexuelle Dana International den Titel mit „Diva“. Das war allerdings vor der Einführung des Televotings. Das popkulturelle Ereignis ESC wird in den osteuropäischen Staaten doch ganz anders gesehen, komplett ohne ironische Distanz.
Das andere beherrschende Thema ist die Frage, ob die Ukraine-Krise den Wettbewerb beeinflussen wird. Am Dienstag. beim ersten Halbfinale, wurde der Beitrag der russischen Zwillinge in der Halle ausgebuht. Die Sängerin aus der Ukraine bekam demonstrativen Beifall. Der Einbruch der Realität hat den ESC überrascht. Wie, es geht gar nicht um überflüssige Musikdarbietungen? Um Tanz und queeren Pop? Fragen nach der Situation in der Ukraine wurden überall gestellt, die Künstler weichen freundlich aus, wo sie können. Eine schwierige Situation: Politik ist beim ESC seit jeher tabu, und wer will sich schon die Chancen vermiesen? Sängerin Ela von Elaiza stammt aus der Ukraine, ist Polen verbunden, aber auch ihr ist außer Mitgefühl wenig zu entlocken. Es wird spannend sein zu beobachten, wie das Publikum auf die Beiträge reagiert. Und wie viele Punkte die beiden Länder bekommen.
Seit 2010 vergab die Ukraine stets zehn Punkte an Russland, und Russland bedachte den Nachbar mit vier Punkten (2013), acht Punkten (2012 und 2010), zehn Punkten (2011). In einem Punkt hinkt der ESC der Weltpolitik ungewollt hinterher. Bewohner der Krim stimmen in diesem Jahr weiterhin für die Ukraine ab, nicht für Russland. Die Telefonnetze werden nämlich weiter von ukrainischen Anbietern betrieben.
Favoriten auf den Sieg gibt es mehrere. Bei den Buchmachern lange vorne lag die Power-Ballade „Not Alone“ aus Armenien. Sänger Aram Mp3 sorgte zwischendurch für Schlagzeilen, als er böse über Conchita Wurst spottete und danach sofort zurückruderte. Sein Vortrag ist kraftvoll. Überholt wurde Armenien vor ein paar Tagen bei den Wettanbietern von der Sängerin Sanne Nielsen aus Schweden, die ebenfalls eine Ballade vorträgt. Aber der Wettbewerb ist lange nicht so eindeutig wie früher, als die Siege von Schweden und Dänemark praktisch von Anfang an feststanden, ohne dass überhaupt gesungen wurde.
Für eine Überraschung gut ist etwa das Lied aus den Niederlanden. Das Duo The Common Linnets sticht schon deshalb heraus, weil es echte Musik ist, die „Calm After Storm“ ausmacht. Ein Schicksal, das die Niederlande mit Finnland und Deutschland gemein haben.
Verrückte Auftritte gibt es reichlich. Mit bunten Kostümen reisen Island und Frankreich an, die Franzosen singen fröhlich, man habe doch alles – was fehlt, sei ein Bart („Moustache, Moustache“). Der umstrittenste Beitrag kommt aus Polen: Zum Schlachtruf „Wir sind Slawen“ verfertigen Mädchen mit aufgeknöpften Bauernblusen allerlei sexuelle Symbolik. Die Sache ist derart scheußlich, dass der grausige Hip-Hop-Folklore-Mix kaum auffällt.
Heimlicher Nutznießer all dieser auseinanderlaufenden Interessen könnte der 21 Jahre alte Sänger Basim sein, der für Dänemark antritt. Sein Gute-Laune-Lied funktioniert ein bisschen so wie „Happy“ von Pharrell Williams. Basim, dessen Eltern aus Marokko nach Dänemark kamen, wuchs in einem Problemviertel auf und erzählt gerne, dass sein Vater ihn anwies, bitte schön Däne zu werden und sich aus allen Problemen herauszuhalten.
Zum Schluss noch eine Statistik: Seit Irland 1992 bis 1994 dreimal in Folge gewann, noch vor Ost-Erweiterung und Televoting, hat kein Land den Sieg verteidigt.
Wenn wir uns festlegen sollen, dann auf Basim und den „Cliche Love Song“. Wir zitieren die schriftliche Fassung des Refrains, der in Kopenhagen überall an den Wänden der Baustellen plakatiert ist: „Skuba duba dabda dididaj, skuba duba dabda dididaj, I love you.“
Und der Rest ist sowieso wurst.