Der amerikanische Maler Philip Guston gilt heute als Vorreiter der postmodernen figürlichen Malerei. In der Sammlung Falckenberg ist jetzt sein explosives Spätwerk zu entdecken
Harburg Sie drängen sich dicht an dicht: Schuhe, mit den Sohlen nach vorn, bergeweise gestapelt. Philip Guston muss im Innern seiner Ohren oft ein Stampfen, ein unablässige Laufen gehört haben, er spricht auch in dem Film darüber, der in der Sammlung Falckenberg zu sehen ist anlässlich der großen Ausstellung, die dem amerikanischen Vollblutmaler dort bis zum 25. Mai gewidmet ist – in Kooperation mit der Frankfurter Schirn. Und es wird wohl noch lange dauern, bis sich nicht mehr automatisch beim Anblick aufgehäufter Schuhe die Assoziationen zu den ermordeten Juden einstellt. Bei Philip Guston jedenfalls haben sie damit zu tun.
1905 waren seine Eltern vor den Judenpogromen von Odessa nach Montréal geflohen. Ab 1919 fristete seine Familie dann in Los Angeles ihr Dasein in bitterster Armut. Guston war zehn Jahre alt, als er seinen Vater fand, der sich erhängt hatte. „Ich war nie fähig, meiner Familie zu entkommen“, schrieb er 1978 in einer unveröffentlichten Notiz. Selbst sein Namenswechsel von Goldstein zu Guston hat daran nichts geändert.
Bevor er sich als Künstler vollständig erneuerte, hatte er innerhalb der abstrakten New York School bereits einen guten Namen und verdiente gutes Geld. Doch schon in den 60er Jahren entwickelte er einen Widerwillen gegen die Dogmen, denen man dort zu dienen hatte: „Es ist etwas Lächerliches und Mickriges in den Mythen, die wir der abstrakten Kunst andichten – dass Malerei autonom, pur sei und für sich selbst stehe. Aber Malerei ist ‚unrein’!“
Da fühlte er bereits, dass seine innere Verbindung zur amerikanischen Avantgarde, zu derenDiktatur der Abstraktion gerissen war. 1970 quittierte zu seiner neuen Ausstellung die Quittung für den Verrat: Ein wichtiger Kritiker bezeichnete ihn als „Mandarin, der vorgibt, ein Stümper zu sein“. Da aber hatte er sich längst entschieden und nahm auch die neuen Geldprobleme in Kauf. Er war mit seiner Frau Musa nach Woodstock gezogen und malte dort, abgeschirmt von der Außenwelt, innerhalb von zehn Jahren 650 Bilder, überwiegend nachts.
Diese rauschhaften Nächte waren jedes Mal ein Befreiungsschlag und zugleich ein Kampf mit den Dämonen seiner traumatischen Vergangenheit, den er auf der Leinwand ausfocht. Im fahlen Morgenlicht sank er dann völlig erschöpft in einen traumlosen Schlaf, neben einem überfüllten Aschenbecher und zu Füßen des Schlachtfelds seiner künstlerischen Selbstbehauptung. Er malte sich auch wach, rauchend und im Bett liegend, die gestapelten Schuhe neben dem Bett aufgeschichtet, die Augen weit aufgerissen. Eines der Bilder aus dieser produktiven Phase wurde kürzlich auf einer Auktion für sechs Millionen Dollar verkauft.
Die Farbe des Blutes war seine wichtigste Grundfarbe, die er gern mit Weiß zu einem etwas ekligen Schweinchenrosa mischte. Fleischrosa. Blutrot. Nachtschwarz. Absaufen im Meer der Farbe und Auftauchen daraus. „Philip, weißt Du, was Dein wahres Thema ist? Es ist die Freiheit!“ sagte Willem de Kooning zu ihm. Doch hat Guston hart um diese Freiheit gerungen, die nie lange anhielt. Nachts, da konnte und wollte er sie nicht mehr wegschicken, die Erinnerungsfetzen, die Albträume, die ihn heimsuchten, die Gedanken. Er stellte sich seiner existenziellen Suche nach innerer Wahrheit im Bild, die er mittels eines radikal subjektiven Vokabulars formulierte. Dazu gehören die Ku-Klux-Klan-bemützten Figuren, Verkörperungen des Bösen.
Über die 60er Jahre schrieb er: „Ich fühlte mich gespalten, schizophren. Der Krieg, was Amerika da widerfuhr, die Brutalität der Welt. Welche Art Mensch bin ich, zuhause sitzend, Magazine lesend, wegen allem in die Luft gehend – um dann in mein Atelier zu gehen und Blau mit Rot zu mischen... Ich wollte wieder ganz sein, wie ich es als Kind war. Wollte das Ganze sein aus dem was ich dachte und was ich fühlte.“
Er wollte dem Schlechten, dem Teuflischen, das ihn ja auch faszinierte, ein Gesicht geben, einen Umriss, Tiefe, Verstrickung. Zugleich aber ist diese Sehnsucht, das Ungreifbare dingfest zu machen, innig verbunden mit seiner konkreten Welt, seinem Körper, seinem Leben, den Gegenständen seines Alltags wie Malbechern und Kippen, der Uhr und der Glühbirne, dem gesichtslosen Scheitel seiner Frau, dürren Beinen mit blutroten Haarstoppeln darauf, stampfenden Käfern und eben diesem Meer von Schuhen, stets von unten gesehen.
Fast immer bleiben die Bilder flächig, und selbst wenn sie an Landschaften erinnern, behalten sie etwas Mehrdeutiges, Bedrängendes, gewalttätig Verzweifeltes. Gelungen ist ein Bild in den Augen des Malers, wenn es eine gewisse Offenheit bewahrt. Wenn es Bewegung, Umschichtung, Veränderung suggeriert. Manches Bild hat sogar einen gewissen grotesken Humor: Drei sorglos qualmende Figuren mit blutbefleckten Ku-Klux-Klan-Mützen fahren selbstherrlich rauchend im Cabrio durch eine Stadt... „Es ist ein Instinkt, der die Dinge in entgegengesetzte Richtung bewegt“, sagt Guston, der immer in dem Gefühl malte, ein Medium zu sein, „andernfalls kann man es nicht ertragen“.
Ausstellung Philip Guston. Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Str. 71. Besuch nur mit Führung, Anmeldung unter Tel. 32506762