Bewegend, politisch, erfolgreich: Eine Bilanz der Lessingtage 2014 am Thalia Theater
Hamburg. Drei Besucher unterhalten sich nach der Aufführung von Akram Khans „Desh“ im Bus. „Manchmal bekommt man mehr, als man erwartet hat“, sagt ein junger Mann verträumt, „auch wenn ich nicht alles verstanden habe.“ Mit viel Pathos hatte der Londoner Choreograf Khan, der bei seinem Gastspiel auf der Thalia-Bühne als Alleintänzer auftrat, am Freitag eine universelle Geschichte von der Suche nach den eigenen Wurzeln erzählt – in seinem Fall liegen die in Bangladesch. Aber manchmal geht es eben nicht darum, alles verstehen zu müssen. Sondern um Neugier und Offenheit. Um die Bereitschaft, sich faszinieren zu lassen.
Zwei Wochen lang stand die Hamburger Theaterlandschaft im Zeichen der Lessingtage, diesem inzwischen fest etablierten Theaterfestival, zu dem Gäste und Zuschauer aus aller Welt in die Stadt kommen. 16.600 Besucher sahen 60 Veranstaltungen, bei einer Auslastung von etwas über 80 Prozent konnte das Festival seinen guten Zuspruch weiter steigern. Viele Rundgänge und Gastspiele waren ausverkauft, und trotzdem: Manchmal reichte es auch, sich die vor dem Theater temporär errichtete Lessingstatue anzuschauen, die mit papiernen Botschaften und Wünschen gespickt war, nach mehr Zusammenhalt und Mitmenschlichkeit. Dann hatte man plötzlich begriffen, wie aktuell der Dichter Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) heute noch ist.
„Der Aberglaube schlimmster ist, den seinen für den erträglicheren zu halten“, heißt es in Lessings „Nathan“. In unserer globalisierten Welt, in der sich der Westen mehr und mehr gegen Flüchtlinge abschottet, ist ein solches Plädoyer für das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionsgemeinschaften von akuter Relevanz; ein Themenfestival wie die Lessingtage ist in einer modernen Stadtgesellschaft wie Hamburg fast eine Notwendigkeit. Bietet es doch Menschen mit unterschiedlichen Wurzeln, Hinter- und Vordergründen die Chance, das Stadttheater als Theater zu begreifen, das auch ihre eigenen Geschichten erzählt.
Gewiss, manchen schreckt es zunächst einmal ab, wenn über einer Veranstaltung der Hinweis steht „Auf Spanisch, Norwegisch, Mandarin mit deutschen Übertiteln“ – auch wenn die Passagen, wie beim Gastspiel der spanischen Extremperformerin Angélica Liddell überschaubar blieben. Das Überschreiten der Hemmschwelle lohnte jedoch immer. Ästhetisch lieferte Liddell sicherlich die radikalste Position. Eine, die im Gedächtnis bleiben wird, gerade weil sie den versöhnlichen Gedanken Lessings auf den ersten Blick zuwiderläuft und erst auf den zweiten Blick (und dann umso deutlicher) leuchten lässt. Verkrachte China-Liebe, urbane Einsamkeit, Sexfantasien: All das brachte Liddell intensiv und zugleich todtraurig zusammen.
Ein Beispiel für das klug zugespitzte Profil, dass die fünfte Ausgabe des Festivals, kuratiert von der Thalia-Dramaturgin Sandra Küpper, offenbarte. Das richtige Thema erwischen und zugleich eine avantgardistische Form vorweisen, das gelingt den wenigsten Produktionen. Und doch ist es gelungen. Das Niveau, bei dem das moderne Erzähltheater dominierte, war über die gesamten zwei Wochen erfreulich hoch.
Mit „Reise ans Ende der Nacht“, das zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, bewies Frank Castorf, dass seine Kunstmaschinerie so gut geölt läuft wie lange nicht. Nie war Bibiana Beglau so ausdrucksstark und hinreißend wie hier als von Zweifeln zerfressener Armenarzt im Kongo. Afrika erwies sich als konsequenter Festivalschwerpunkt. Vorbilder wie das Festival d’ Avignon oder Tanz im August in Berlin haben es vorgemacht, doch die Lessingtage fanden ihren eigenen Zugang zu der Frage: Wie gehen wir mit Flüchtlingen in unserer Stadt um? Über die Folgen des Kolonialismus – korrupte Staatslenker, Ausverkauf des Landes und seiner Ressourcen – gab die Produktion „Eine Nacht im Präsidentenpalast“ von Jean-Louis Martinelli realitätsnah Auskunft.
Die Entscheidung, zwei reine Tanzproduktionen aufzunehmen, die einen klaren interkulturellen Fokus haben, erwies sich als Glücksgriff. Abou Lagraas „Nya“ war auch soziologisch interessant, weil es die Keimzelle einer noch blutjungen zeitgenössischen Tanzszene in Algier zeigte. Lagraa hat die Tänzer seines Ballet Contemporain d’Alger bei Hip-Hop- und Breakdance-Übungen am Strand gecastet, monatelang trainiert und eine mitreißende „Boléro“-Version auf die Bühne gebracht. Ausgerechnet Ravel, dieser französische Nationalheilige, wird da mit urbanem Straßenlärm verschnitten und von Arabern vertanzt, von denen einige wegen ihrer Kraft und Wucht von jeder anderen Kompanie aussortiert würden. Das Unperfekte, Ungeschliffene, hier wurde es große Kunst.
Tänzerischer dagegen das Akram-Khan-Solo „Desh“. Allein mit seinem biegsamen Körper und einer wandlungsfähigen Bühne trat Khan in einen Dialog mit seinem Vater und seiner Vergangenheit. Wobei die recht kindlichen Animationen und eine Mädchenstimme aus dem Off mit ihrem dick aufgetragenen Pathos eher irritierten.
Das Experiment, mit Meng Jinghui, dem Nationaltheater China und „Leben!“ einen Vertreter der jüngeren Generation einzuladen, ging auf. Mit sichtbarem Bemühen um eine moderne, fragmentierte Form erzählte Regisseur Meng Jinghui eine Parabel über die politisch bewegte Geschichte des Landes. Zum Lachen und zum Weinen war das. Ähnlich gelang das auch Christine Jatahy mit viel Kameraeinsatz in ihrer emotionalen, brasilianischen Strindberg-Version „Julia“.
Und, ein besonderes Verdienst des Festivals: Auch schwerer verdauliche Komplexe wie Intoleranz und Terrorismus klammerte es nicht aus.
Die Lessingtage 2014 haben gezeigt, dass das Theater hier nicht mit moralisierendem Zeigefinger einer Verpflichtung nachkommt. Noch nie gab es so viele Standing Ovations, ob für Frank Castorf, das Nationaltheater China oder für Akram Khan. Der Andrang auch vieler junger Zuschauer bei den Publikumsgesprächen signalisierte starken Gesprächsbedarf. Die Lessingtage sind weiter auf einem guten Weg. Mehr davon. Hoffentlich im kommenden Jahr.