Auf seiner neuen Platte “Hatte ich dich nicht gebeten im Auto zu warten“ vereint Michy Reincke Poesie und Protest im Pop. Eine Begegnung in Barmbek-Süd – mit einem Musiker, der gerne quer denkt.
Hamburg. Auf dem Küchentisch in Michy Reinckes Altbauwohnung in Barmbek-Süd streben Amaryllis dem Erblühen entgegen. Gegenüber, auf der Anrichte, steht ein Becher mit Aufdruck: „Männer haben auch Gefühle – Hunger und Durst“. Und dazwischen, da sitzt Michy Reincke, entspannt in Sweatshirt und Jeans, die Haare leicht strubbelig, schenkt grünen Tee ein, stellt Honig dazu und beginnt, von seinem neuen Album zu erzählen. Doch wer den Hamburger Popmusiker kennt, interessiert und inspiriert, unbequem und kritisch, wie er ist, der weiß: Reincke redet nie über nur eine Sache. Stattdessen spannt er flugs einen Bogen von Heinrich Heine bis François Truffaut, von der Aufklärung bis zum Universum. Sein künstlerischer Kosmos, der bewegt sich ziemlich genau zwischen der Schönheit der stolzen Blumen links und dem Humor des Bechers rechts von ihm. Wobei die Betonung auf dem „Zwischen“ liegt. Denn weder würde der 54-Jährige einer bloßen Ästhetik, einem gefälligen Wohlklang nachjagen, noch würde er sich in seinen Songtexten grober Kalauer bedienen.
„Die Welt ist nicht schwarz-weiß“, sagt er mit Nachdruck in der Stimme. „Ich möchte mir jedes Thema einzeln angucken und mich nicht vereinnahmen lassen. Ich versuche, zu eigenständigem Denken zu inspirieren.“
Er argumentiert mit Vehemenz in der Stimme, kann jedoch in Sekundenschnelle wieder in Lachen ausbrechen, mit reichlich Schalk im Blick. Die Gelassenheit des Alters. Seit mehr als 30 Jahren macht Reincke nun Musik. Heute will er die Welt weniger erobern, vielmehr „Rätsel lösen“. Seine neue Platte ist sein zehntes Soloalbum, drei waren es in den 80er-Jahren mit seiner Band Felix De Luxe. Und die erste der aktuellen Nummern, „Steh auf und scheine“, klingt auch wie eine Motivationshymne für sich selbst. Ein Schwung und Schubs mit knackigem Gitarrenspiel, Bläsern und Streichern, Pop und Gospel-Euphorie, mit „Bang, Bang, Boom, Boom“.
„Mir geht es tatsächlich darum, mir selbst Freude zu bereiten“, erklärt Reincke. „Ich wollte die Energie einfangen, wenn man die Ärmel hochkrempelt und etwas Neues beginnt.“ Ähnlich wie bei einem Hund. Der stehe auch jeden Tag wieder schwanzwedelnd da und sei gespannt, was kommt. Egal, was vorher geschehen sei. „Diese Haltung ist dem Kulturmenschen ein bisschen aus den Händen geglitten“, sagt Reincke. „Wir leben in einer Epoche, wo durch die Beschäftigung mit Maschinen und die vermeintliche Lebenserleichterung durch diese eine unglaubliche Ablenkung besteht. Großes Glück ist dann nicht mehr in der Lebendigkeit und den Talenten eines menschlichen Wesens zu finden, sondern in erster Linie in Bequemlichkeit.“ Gegen diese Roboterisierung singt Reincke in der souligen Nummer „Gib alles oder vergiss es“. Und im Gespräch ist durchaus Zeit für einige Tassen grünen Tees, wenn Reincke den Konsum von Medien und das „große Gefängnis Internet“ kritisiert. Oder wenn er sich über formatierte Radiolandschaften aufregt.
Mit dem Artwork zu seiner Platte schlägt der Musiker klipp und klar vor, die Automatenwelt zu verlassen. Da hockt er mit Gitarre und Hut auf der Kante eines Ufos und schaut in die Weite. „Hatte ich dich nicht gebeten im Auto zu warten“, heißt das Album. Doch Reincke ist keiner, der einfach sitzen bleiben möchte, bis etwas geschieht. Er ist jedoch jemand, der die Dinge gerne reifen lässt. Vor allem seine Musik. Der pausiert, wenn er sich im Detail zu verlieren droht. Der seinen Songs eine gewisse Zeitlosigkeit verleihen möchte. Deshalb überprüft er immer wieder, ob die im Werden begriffenen Stücke nur eine kurze Laune wiedergeben oder Gefühlswelten, die er auch nach ein paar Monaten noch nachspüren kann.
Letztlich ist Reincke ein Pop-Flaneur, der sein Umfeld sehr genau beobachtet, der „Wahrheiten abbilden“ will. Der die Menschen mit seinen Songs dazu anregen möchte, sich in die Welt zu verlieben. Ein Romantiker, der mit mindestens drei Vierteln seines Herzens auch Anachronist ist. Zwar zeichnet er Einfälle mitunter auch auf dem Smartphone auf. Aber er bevorzugt für diesen Vorgang Kassetten, die er dann später zur Inspiration nach dem Zufallsprinzip anhört. „Das ist sehr viel umständlicher als mit digitalen Geräten zu operieren“, gesteht er ein. Aber während er hin und her spule, um eine bestimmte Idee zu finden, entdecke er meistens etwas ganz anderes, oftmals Interessanteres. Dieser aufwendige Prozess scheint wie die Antithese zu Reinckes Song „Du hast deine Farben verloren“. In der Disconummer, deren Gitarrenspiel eine deutlich hörbare Hommage an Nile Rodgers ist, erzählt Reincke von einem Menschen, der lieber angepasst lebt statt ungewöhnlich.
Reincke darf gut und gerne als „independent“ bezeichnet werden, als unabhängiger Künstler. Erschienen ist das aktuelle Werk auf seinem Label Rintintin Musik, mit dem er auch Acts wie Anna Depenbusch und Fjarill den Weg in die Popbranche geebnet hat. Doch da sein eigener Sound nicht „indie“ klingt, nicht rau, rotzig und improvisiert, sondern nach Pop und auch Country, setzt Reincke sich gepflegt zwischen die Stühle von Mainstream und Alternativkultur.
„Das, was ich mache, mache ich ohne die Unterstützung irgendwelcher Konzerne“, sagt er entschieden. Regelrecht in Rage geraten kann er, wenn „Kultur mit betriebswirtschaftlichen Maßstäben bemessen wird“.
Die Vielfalt, für die der Künstler plädiert, gilt ebenfalls für sein Schaffen. Und so gibt es auch den sanften Reincke. Den, der Liebeslieder schreibt. Schwelgerische, komplizierte, humorvolle. Lieder, die das „Zwischen“ ausloten. Vom Rendezvous bis zur Untreue. Reincke möchte die Ambivalenz aufzeigen, die zwischen Sehnsüchten und Ängsten liegt. „Ich versuche da, um die Klischees herumzukommen, indem ich neue Wortkombinationen erfinde. Deswegen sind manche Titel auch besonders lang“, erläutert Reincke. Das Ergebnis sind dann Songnamen wie „Sie begegnete mir auf die gleiche Art wie der Blitz in einen Baum einschlägt“.
Der grüne Tee ist mittlerweile zur Neige gegangen. Nach dem Gespräch, beim Rausgehen, fällt der Blick auf einen Gitarrenkoffer, der auf dem Dielenboden im Flur steht. So, als wolle Reincke jederzeit losrennen können mit dem, was ihn im Leben antreibt. Mit der Musik. Ganz so, wie er es in „Malie, komm tanzen“ besingt: „Lass uns rausgehen und pack die Sonnenbrillen ein, / denn wir werden ganz sicher nicht vor morgen Nacht zurück sein.“
Michy Reincke „Hatte ich dich nicht gebeten im Auto zu warten“ (Rintintin Musik); Konzert
Sa 10.5., Kampnagel, 26,- bis 31,- (Vvk.)