Von André Gide bis Hape Kerkeling: Wie haben sich Menschen vor Ex-Fußballprofi Thomas Hitzlsperger zu ihrer Homosexualität bekannt? Ein Überblick.
Ein stolzer Satz. Ein selbstbewusster Satz. „Ich äußere mich zu meiner Homosexualität“: Mit diesen Worten beginnt das Interview, in dem der Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger sich gegenüber der „Zeit“ zu seiner Veranlagung bekennt. Sie dürften eine neue Epoche des Outings einleiten. Eine Epoche, in der „die Tatsache, dass“ als selbstverständlich betrachtet wird. In der das Wie und was es für die anderen bedeutet, im Mittelpunkt stehen – im konkreten Fall die vielen schwulen Fußballer, die sich nicht trauen zu sagen, was sie sind, und denen Hitzlsperger helfen will. Es war ein langer und leidvoller Weg.
Homosexualität und Outing – das gibt es erst im demokratischen Zeitalter. Im Feudalismus wurde Homosexualität von denen, die es sich leisten konnten, nicht bekannt, sondern gelebt: Heinrich III. von Frankreich (1551 bis 1589) hielt sich seine „Mignons“ (hübsche Jungs). Erklärungsbedarf dafür sah er nicht. Friedrich der Große hörte zwar irgendwann auf, seinen Pagen per Taschentuchwurf zu bezeugen, dass er jetzt die sexuellen Dienste in Anspruch zu nehmen geneigt sei und zog sich in die Asexualität zurück. Aber dass sein jüngerer Bruder Heinrich die eigene Homosexualität ausgesprochen freizügig auslebte, störte am preußischen Hof niemanden. Ein Bekennen erfolgte natürlich trotzdem nicht.
Es ist kein Zufall, dass sich das erste (Fremd-)Outing während der Französischen Revolution ereignete. Das Opfer war natürlich eine Adelige: Marie Antoinette, die Königin von Frankreich. Ihr wurde in zahlreichen Druckschriften eine widernatürliche Leidenschaft zur Prinzessin Lamballe nachgesagt. Das Wort „lesbisch“ gab es noch nicht. Aber wie wand man sich erst, um Männer, die auf Männer standen, zu bezeichnen!
Schwules Fremd-Outing war zunächst tatsächlich der Versuch sozialer Existenzvernichtung. Dafür steht der Journalist Maximilian Harden, der den größten Schwulenskandal des Kaiserreichs in Gang brachte, die sogenannte „Eulenburg-Affäre“. Angeheizt von Bismarck, der seine Abschiebung durch Wilhelm II. nicht verwinden konnte, wollte Harden niemand Geringeren als den Kaiser und seine Entourage treffen. Und die Strategie ging auf. Wilhelm, der natürlich sofort alle seine schwulen Freunde fallen ließ, ging trotzdem stark beschädigt aus der Angelegenheit hervor, und sein langjähriger Intimus Philipp Fürst zu Eulenburg als gebrochener, kranker Mann.
Doch wie subtil ging Harden seinerzeit zu Werke! In seinem Hausorgan „Die Zukunft“ entwarf er ein kleines Dramolett, angelehnt an Goethes „Faust“. Wir machen uns heute keinen Begriff mehr davon, dass so etwas wie eine Bombe einschlug. Denn da steht einfach nur: „November 1906. Nacht. Offenes Feld im Uckergebiet. Der Harfner: ,Hast du’s gelesen?‘ Der Süße: ,Schon Freitag‘. Der Harfner: ,Meinst Du, dass noch mehr kommt?‘ Der Süße: ,Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen.‘“ Das reichte den Zeitgenossen. Sie verstanden sofort. Gerüchte hatte es ja schon immer gegeben um Eulenburg und sein Schloss Liebenberg in der Uckermark, auch von den gefühlvollen Liedern und Gedichten, die „der Harfner“ schrieb, wusste man. Was Harden lostrat, war eine der unappetitlichsten Medienkampagnen in der Geschichte des Journalismus.
Und weil er so erfolgreich war, versuchte er es einige Jahre später mit einem weiteren Opfer: Siegfried Wagner, dem Sohn von Richard Wagner. Auch hier arbeitete Harden mit Andeutungen. Er nannte – deutlicher wurde er nicht – den „Meistersohn“ blumig „Siegfriedchen, ein Heiland aus andersfarbiger Kiste“. Doch das genügte, um in Bayreuth sämtliche Alarmglocken schrillen zu lassen. Mutter Cosima zwang Siegfried umgehend zu heiraten. So gelangte die spätere Hitler-Freundin Winifred an den „Hof“ von Bayreuth. Und: Harden hatte Pech. Der Erste Weltkrieg kam ihm in die Quere: Er hatte sein perfides Outing am Tag des Attentats von Sarajewo platziert. Da ging es unter.
Es musste erst die „Welt von gestern“ im Orkus der Geschichte versinken, bis ein Prominenter sich selber outete. Dieses historische Verdienst gebührt dem französischen Schriftsteller André Gide (1869 bis 1951), einem der ganz großen Humanisten der europäischen Literaturgeschichte. Er berichtete in seiner Autobiografie „Stirb und werde“ 1921 von seinen Neigungen, beschrieb ihre Genese und schloss überdies ein Plädoyer für gelebte Homosexualität an. Doch halt: „Homosexuell“ wollte auch er sich noch nicht nennen. In deutlicher Absetzung zu Oscar Wilde, der ihn 25 Jahre zuvor in die „Mysterien“ der mann-männlichen Liebe eingeführt hatte und den er zu vulgär und explizit fand, bezeichnete sich Gide als „Päderast“. Will sagen: Für ihn kam nur – wie bei den alten Griechen – die Liebe zwischen einem reifen Mann und einem Jüngling oder sogar Knaben infrage (seine große Liebe, der spätere Filmregisseur Marc Allégret, war 17, als die beiden ein Paar wurden).
Über diese Auffassung, damals als ungeheuer kühne und befreiende Tat empfunden, hat die gay community später erbittert diskutiert. Tatsache ist, dass auch der mit Gide annährend gleichaltrige Thomas Mann erotisch ähnlich disponiert war, nur durfte man zu seinen Lebzeiten um Gottes Willen nichts davon erfahren. Erst seinen Tagebüchern konnten wir, als er schon 20 Jahre unter der Erde war, entnehmen, dass dem „jungmännlichen Reiz“ seine geheime große Sehnsucht galt, denn „Es kenne mich die Welt“, das wollte er schon, „doch erst, wenn alles tot ist“, schrieb er in seinem letzten Willen und fügte, wie es seine Art war, kokett hinzu: „Heitere Entdeckungen dann, in Gottes Namen!“
So richtig heiter wollte es mit dem Outing aber auch nicht werden, als es in den 90er-Jahren in der westlichen Welt Mode wurde – als Reaktion auf die Geißel der Epoche, die Immunschwäche Aids. Mochte das Selbst-Outing Rock Hudsons, des „Ladykillers“ schlechthin im Film der 50er-Jahre, auch vielen Schicksalsgenossen Mut machen und Trost spenden: Dass der Schauspieler kurz vor seinem Tod mit seiner Sexualität UND Krankheit an die Öffentlichkeit ging, machte auf eine Weise Schule, die umstritten war.
Die Fremd-Outings, die danach die amerikanischen Schwulenaktivisten propagierten, hatten auch etwas Dogmatisches. In Deutschland griff der Filmemacher Rosa von Praunheim die Praxis auf: Als er 1991 auf RTL Alfred Biolek und Hape Kerkeling outete, erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Doch im Nachhinein wird man sagen dürfen: Der deutschen Gesellschaft hat das gutgetan.
Es war – nicht nur auf dem Höhepunkt der Aids-Krise – wichtig, dass die deutsche Mehrheitsbevölkerung endlich zur Kenntnis nahm, wie viele Spielarten von Homosexualität es hierzulande gibt. Praunheim bereitete damit auch dem Politiker-Outing den Boden.
Seit Klaus Wowereits Satz: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so“ muss tatsächlich kein deutscher Politiker mehr befürchten, dass ihm seine Homosexualität schaden könnte. Eher schadet heute den Karrieren der VIPs, wenn sie sich nicht outen. Wir Deutschen bleiben also Schüler Martin Luthers. Sein Bekennerwort „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ gilt jetzt auch im sexuellen Sinne. Seit Thomas Hitzlspergers Outing im Fußball. Und das ist nicht nur gut so, das wurde auch Zeit.