Nach sechs Jahren in Köln bereichert Lina Beckmann nun das neue Ensemble des Hamburger Schauspielhauses. Die Schauspielerin beherrscht vielleicht das Schwierigste überhaupt.

Hamburg. Lina Beckmann sei eine „Naturpflanze“ war in einer Rezension über die Künstlerin zu lesen, die 2011 von mehr als drei Dutzend Theaterkritikern zur „Schauspielerin des Jahres“ gewählt worden war. Natürlich ist das nur so ein Ausdruck, aber Beckmann, 1981 geboren und im Ruhrgebiet sozialisiert, ist auf der Bühne ein reines Kraftfeld und deutlich lebhafter als eine Pflanze, die ja ihren Energiebedarf still und stumm aus Licht deckt. Wenn schon ein Vergleich aus dem Reich der Natur herhalten muss, dann ist Lina Beckmann wohl eher ein Theatertier, eine Schauspielerin, die sich ganz gibt. Wahrhaftig, wild und wagemutig ist sie, und beinahe immer gelingt es ihr so, ihr Publikum zu berühren.

Das Theater scheint in der Familie Beckmann im Genpool verankert zu sein. Vier Geschwister hat Lina, drei davon sind beim Theater. Lina ist das Sandwichkind, genau in der Mitte, aber „ich war die Erste, die zum Theater gegangen ist. Meine Geschwister haben mir oft zugeguckt und wurden davon irgendwie angefixt.“ Zwei Brüder arbeiten in der freien Theaterszene, Schwester Maja hat gerade vom Schauspielhaus Bochum ans Schauspiel Stuttgart gewechselt. Alle vier treten, wann immer es noch passt, im Ruhrgebiet als die Gruppe „Spielkinder“ auf. Inzwischen ist auch Beckmanns Mann, Charly Hübner, dabei, der nun ebenfalls am Schauspielhaus engagiert ist und den viele Zuschauer aus Film und Fernsehen kennen. Nur ein Beckmann-Bruder hat es nicht ans Theater geschafft, „der ist unser schwarzes Schaf“, sagt sie lachend.

Seit 2007 gehörte Lina Beckmann zum Ensemble des Schauspiels Köln, woher sie mit Intendantin Karin Beier ans Schauspielhaus gekommen ist. Dort, spielte sie in mehreren Inszenierungen, die zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden, unter anderem in der vielfach ausgezeichneten Jelinek-Aufführung „Das Werk/Im Bus/Ein Sturz“, mit der sie auch in Hamburg gastierte. Oft war Beckmann aufgefallen, doch immer nur in Nebenrollen. „Eine Zeit lang hab ich echt geglaubt, ich bin einfach keine Hauptrolle“, sagt sie, „sondern eher der Typ Schauspielerin, die man zwar ganz toll findet, die aber immer nur die beste Freundin der Hauptrolle ist.“ Erst 2011 spielt sie ihre erste Hauptrolle. Und dann auch noch einen Mann, Fürst Myschkin aus Dostojewskis „Idiot“. Regie führte Karin Henkel, in einer Kritik hieß es, Beckmann stehe an der Rampe „offen, verletzbar, wie ein großes Kind.“ Sie habe einen Menschen gespielt, sagt sie, „kein Klischee von einem Mann. Das hätte mir im Weg gestanden.“

Ja, den Menschen, den sucht sie wohl in all ihren Rollen, denen sie emotional ganz tief auf den Grund geht. Lina Beckmann spielt unschuldige Mädchen, komische Verliererinnen, Gören mit Gemüt. Sie ist groß, scheint robust, kann komisch, zeigt Gefühle, wirkt warm, geerdet, unzerstörbar. Eine Alleskönnerin. Keine Diva. Beier sagt: „Als Mensch ist sie so, wie jeder Regisseur sich das wünscht, unkompliziert, kollegial und wahnsinnig uneitel.“

„Der Zugriff, den ich zu Figuren habe, ist der Blick auf Menschen“, erklärt Beckmann. „Ich habe kein Schema, kein Gerüst, alles entsteht aus dem Moment. Dann schmeiße ich mich rein, und es passiert ganz viel. Manchmal schäme ich mich auch dafür, dass es vielleicht doof aussieht oder peinlich ist. Aber wenn ich es nicht versuche, komme ich an eine Figur ja gar nicht heran. Ich verbiete mir, dass mir etwas peinlich ist. Ich verliere mich aber nicht. Ich mache die Rolle zu meiner Figur.“

Lina Beckmann beherrscht vielleicht das Schwierigste überhaupt. Bei ihr sieht Kunst natürlich aus. Sie kennt keine falschen Töne, einen klitzekleinen Fehler hat sie aber. Sie ist ehrlich, gerade heraus, die Frauenrollen von Hauptmann scheinen wie für sie gemacht, aber auch das Käthchen, die Figuren von Wedekind – wenn man denn noch so typgerecht, so klassisch besetzen würde. Sie wirkt wie eine Volksgestalt, lieb, gutartig, geschäftig, auf der Suche nach etwas Verlorenem, Vermisstem, nicht Dagewesenem. Wenn man sie auf der Bühne sieht, mag man sie für eine normale Frau halten, aber für so normal nun auch wieder nicht, als dass sie nicht jede Sekunde für eine Überraschung sorgen oder ein so komisches Unglück geschehen lassen könnte, dass man seine Augen besser gar nicht mehr von ihr löst. Eva Mattes, die ihr einmal einen Preis verliehen hat, sagte in ihrer Laudatio: „Sie spricht mit dem Publikum, als wäre sie die Kassiererin in dem Laden an der Ecke: alltäglich, selbstverständlich, gewöhnlich, und gleichzeitig springt sie einen an mit ihrer Intensität und Strahlkraft.“ Bannend könnte man solch eine Ausstrahlung nennen. Denn eines ist Lina Beckmann sicher nicht: unscheinbar. Ein Mäuschen.

Auf die Frage, was ihr Spaß am Spielen mache, antwortet Lina Beckmann: „Die geschriebenen Sätze lebendig werden zu lassen. Das finde ich unglaublich bezaubernd, dass man damit, was auf einem Blatt Papier steht, Menschen berühren kann.“ Was ist das, das Zuschauer bewegt, das ihnen mehr vermittelt als nur die Sätze, die sie hören? „Es hat sicher etwas mit dem Öffnen des Herzens, der Seele zu tun. Das muss man als Schauspieler wollen. Sicher kann man auch ganz anders an Figuren herangehen und gefallen. Aber ich mache es so.“

Gefragt, was ihr an ihrem Beruf besondere Freude bereite, antwortet sie stockend: „Ach Gott, das ist so viel.“ Sie weiß gar nicht, was sie zuerst sagen soll, entscheidet sich aber, es dann doch wieder übers Publikum zu machen. „Es ist ein so besonderer Beruf. In unserer Zeit die Menschen noch verzaubern zu können, ihnen Geschichten zu erzählen, sie zu berühren, wo sich doch scheinbar alles um Computer und Technik dreht, das ist das Wunderbare am Schauspieler-Beruf. Man steht da, schminkt sich, verkleidet sich und lockt Menschen ins Theater, das finde ich toll. Für mich ist es das Einzige, das mir eine unglaubliche Freude macht und mich fasziniert. Es gibt nichts anderes, das mich so ausfüllt. Beruflich. Privat ist das natürlich mein Sohn.“ Karl ist fünf Jahre alt, sitzt dabei und schreibt seinen Namen.

Dann muss natürlich auch der größte Nachteil des Berufs genannt werden: „Man kann ihn sehr schlecht mit Kindern vereinbaren. Mir zumindest fordert das eine unglaubliche Disziplin ab. Und man verdient auch noch sehr wenig Geld.“ Aber sie habe durch ihren Beruf gelernt, zwischen Dingen, die „wirklich wichtig sind“ und anderen Dingen, die „beiseite geschoben werden können“ zu unterscheiden. Anfangs sei sie streng mit sich gewesen und habe auch mal geweint, wenn es nach der ersten Probe nicht gleich geklappt habe, „der Druck ist jetzt weg“. „Ich bin mutiger und ruhiger geworden.“ Kann sein, dass es Erfahrung ist, die dazu geführt hat, die Auszeichnungen und Ehrungen, die sie bekommen hat. Und nicht zuletzt Karin Beier, der sie „total vertraut“. Jetzt in Hamburg wieder neu anzufangen sei allerdings „eine Riesenaufgabe. Für uns alle. Die meisten Zuschauer hier kennen uns ja noch nicht.“

Das allerdings wird sich ganz schnell ändern. In der Eröffnungspremiere, dem Antikenprojekt „Die Rasenden“, spielt Beckmann vom 18. Januar an die Andromache aus den „Troerinnen“ und in „Elektra“ Chrysothemis, die Schwester der Titelfigur, die von Birgit Minichmayr gespielt wird. Da treffen dann zwei, die sich mit Haut und Haaren geben, aufeinander.

In der nächsten Folge: Maria Schrader