„Die Kultur der Unhöflichkeit“ ist eine Haupteigenschaft unserer Zeit, sagt Buchautor Thomas Mießgang. Im Fernsehen, im Internet, im Straßenverkehr, in der Politik – der gute Stil verkümmert.

Hamburg. Wahrscheinlich kann man eine Geschichte der westlichen Gesellschaften im Allgemeinen und der deutschen im Besonderen anhand der Höflichkeitskonventionen schreiben, die in ihr zu je unterschiedlichen Zeiten herrschten. Dass der alte Knigge kein Ratgeber für das dritte Jahrtausend ist, der in der ersten Reihe der Erzieher steht und Rüpeln Benimm beibimst, steht außer Frage: Die intersozialen Treffpunkte sind heute häufig virtuell, der Verfall der Sitten auch.

Es ist sogar so, dass das Unterlaufen von Standards im Umgang miteinander im Internet erst vollkommen entfesselt worden ist. Die Netiquette wird in Foren oft nicht beachtet, Regularien des Anstands konsequent ignoriert, weil hier jeder unter dem Dach des Anonymen konsequent drauflos pöbeln kann. Was soll ein Knigge da noch ausrichten?

Wenn man sich die Bezugsgrößen, Vergleichssphären und Vorbilder anschaut, bleibt festzuhalten, dass die Umgangsformen seit einiger Zeit schon in eine Phase der Auflösung eingegangen sind: Politik, Straßenverkehr, vor allem aber die machtvolle Instanz des Fernsehens leben eine Erosion des Wohlanständigen vor und sind längst schon Arenen des Vulgären – man denke nur an die Beleidigungsorgien in den Casting-Shows. Dort geht es um mehr als nur den Verzicht auf jede Freundlichkeit, sondern um gezielte Invektiven zur Vernichtung der Kandidaten und zur Pläsier des Publikums.

Eine Haupteigenschaft unserer Gegenwart ist also die allgemeine Verrohung. Und trotzdem ist es so, dass der Verstoß gegen tradierte, gemeinsam verabredete Verhaltens-Kodizes manch leere Konvention enthüllen kann. Wer provoziert, indem er sich „falsch“ verhält, kann schließlich auch Machtstrukturen aufbrechen oder Kritik üben. Der österreichische Publizist Thomas Mießgang beklagt in seinem neuen, gleichnamigen Buch „Die Kultur der Unhöflichkeit“, die auf vielen Kanälen Einzug gehalten hat. Und er ist es auch, der den Begriff des „strategischen Grobianismus“ ins Spiel bringt, durch den ein eigentlich Manierlicher, der die Regeln kennt, die Spießer provoziert und damit „eine potenziell systemsprengende Kraft in sich trägt, während der Rüpel in seinem begriffslosen und selbstgefälligen Solipsismus systemstabilisierend wirkt“.

Der Rüpel, das ist der, der nicht einmal weiß, dass man im Ruhebereich des ICEs nicht laut und lange telefoniert oder anderen die Tür ins Gesicht fallen lässt. Der Rüpel weiß nicht nur nichts über feine Unterschiede, er weiß noch nicht einmal etwas über die von der Gesellschaft konstruierte Etikette, mit der eine zivilisierte Kommunikation, ein friedliches, weil rücksichtsvolles Zusammenleben möglich ist. Vielleicht, weil das Zerbrechen der Form, das auch ein Merkmal der Individualisierung ist, heute gar nicht mehr wahrgenommen wird; vollendete Höflichkeit ist beinah eine altmodische Erscheinung.

Und da der standesbewusste Bildungsbürger Mießgang, Jahrgang 1955, in seiner Betrachtung eindeutig mehr auf bedenkliche habituelle Entwicklungen schaut als auf den bisweilen emanzipatorischen Effekt von zügellosem Tun im Dienste des Ungehobelten, ist „Die Kultur der Unhöflichkeit“ dann doch auch eine schlüssige, auf hohe Wiedererkennbarkeit angelegte Kritik unserer Zeit. Wenn man sich die anschaut, sieht man Politiker, die sich pfauenhaft mit Frauen und Titeln schmücken oder gerne mal Vorteile mitnehmen, die ihnen ihre Bekanntheit verschafft. Man weiß, dass das Büro eine Kampfzone ist, in der Ellenbogeneinsatz und Mobbing tragfähige Konzepte sind. Fußgänger, Radler und Autofahrer betreiben im Straßenverkehr ihre je eigene Form von Hooliganismus – das Unterwegssein ist derweil aber auch grundsätzlich ein Bereich der verhaltensmäßigen Unverschämtheiten.

Etymologisch leitet sich die Höflichkeit vom „Verhalten bei Hofe“ ab

Flegeleien in Flugzeugen sind an der Tagesordnung. Man möchte, wenn man Mießgangs scharf formulierte und (bisweilen zu) originelle Betrachtungen liest, sehr oft nicken: Stimmt, das ist unsere Zeit. Wir haben keine andere, und das ist in mancherlei Hinsicht auch gut so. Wer will schon immer top gestylt unterwegs sein, aristokratische Essmanieren an den Tag legen und servil gegenüber Älteren und hierarchisch höher Stehenden sein? Das Aufweichen von Verhaltensvorgaben, so beschreibt es Mießgang in seinem kenntnisreichen Essay, wurde von Popmusik – deren Protagonisten immer schon durch forciertes Rabaukentum für kathartische Momente sorgten – und der kulturellen Revolution der Sechzigerjahre befördert. Die Notwendigkeit von Veränderungen im Zusammenleben stellt Mießgang nicht in Frage; es ist das grassierende Proletentum, vor allem das im Fernsehen, das ihn staunen lässt.

Wo heute manch einer nicht mehr weiß, was denn (vielleicht auch nur theoretisch) ein adäquates Verhalten wäre, verliert die Unhöflichkeit ihr provokatives Potenzial. Ein nachlässiger Habitus und unflätiges Benehmen können heute nur noch Hardcore-Kulturkonservative aus der steifen Reserve locken. Wahrscheinlich wird man in Zukunft alle paar Jahre eine „Neue Gediegenheit“ und die neuste Neo-Spießerei ausrufen, weil ein kleiner Teil der Gesellschaft von Zeit zu Zeit wieder althergebrachte Stilstandards schätzt. Und damit, dass sich im Netz das Raum verschafft, was immer schon in uns schlummert, das instinkthafte, nicht gefällige, sonst oft nur durch Impulskontrolle zurückgehaltene Unfreundliche, müssen wir uns wohl abfinden.

Letztlich ist gut und demokratisch, dass Manierendiktate nicht mehr über Herrschaft und Karriere entscheiden. Weshalb es auch nur eine stille Trauer ist, die in Mießgangs manchmal elitären, aber immer klugen Text anklingt: Ein kulturpessimistisches Lamento ist „Die Kultur der Unhöflichkeit“ jedenfalls nicht. Allenfalls ein hier und da wütend-kopfschüttelnder Kommentar zum Beispiel zu den Exzessen einer heuchlerischen Höflichkeit, wie sie etwa im Apple-Store stattfinden. Übermäßiges Nettsein aufgrund kommerzieller Interessen ist tatsächlich eine Unart, die neuerdings auf immer peinlichere Weise Einzug hält.

Etymologisch leitet sich die Höflichkeit vom „Verhalten bei Hofe“ ab, wie Mießgang kundig erklärt. Er erinnert auch an die Furzfestivals früherer Epochen, als Liselotte von der Pfalz stolz von den Verdauungsprozessen schreiben durfte, ohne dass daran jemand Anstoß genommen hätte. Andere Zeiten, anderen Sitten – so gesehen, leben wir in ganz manierlichen Zeiten.