In seinem Tatsachenroman „The Aftermath“ schildert der britische Autor Rhidian Brook, wie Lewis Morgan, Militärgouverneur des Bezirks Pinneberg, die Hungersnot im Winter 1946/47 in Hamburg erlebt.

London. Wie viele Menschenleben hat der von Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg gekostet? Rund sechs Millionen Deutsche, wird geschätzt, und bis zum Zehnfachen auf Seiten der Alliierten. Eines der Opfer war Michael Morgan aus Wales. Der 14-Jährige wurde beim Bombenabwurf einer He 111 von den Trümmern eines Einfamilienhauses begraben. Es geschah vor den Augen seiner Mutter, Rachael. Sie selbst blieb unverletzt, aber spätestens seit diesem Frühlingstag 1942 stand für sie fest: Die Deutschen sind ein böses Volk. Das ist die Einstellung, mit der sie im September 1946 mit Michaels jüngerem Bruder Edmund nach Hamburg reist, zur lang ersehnten Wiedervereinigung mit ihrem Mann.

Lewis Morgan, ein hoch dekorierter Oberst, ist Militärgouverneur des Bezirks Pinneberg mit dem Auftrag, den Wiederaufbau der Hansestadt zu organisieren. Der materielle wie moralische Zusammenbruch, mit dem er Tag für Tag konfrontiert wird, hat ihm ein anderes Bild von den Deutschen vermittelt: ausgemergelte Trümmerfrauen in einer Ruinenlandschaft, wo sich Schuttberge türmen, unter denen Leichen verwesen; zerlumpte Ausgebombte und Heimatlose, die ohne Ziel umherirren; frierende Waisenkinder, die seinen Dienst-Mercedes – das Nazibonzenmodell 540K – umringen und „Tommy, gib uns mehr zu essen, sonst werden wir Hitler nicht vergessen“ gröhlen.

Morgan macht sich nichts vor. Er weiß, es gibt immer noch Unverbesserliche, die 133 Fragen auf den Entnazifizierungsanträgen werden oft mit Lügen beantwortet, für 400 Zigaretten lässt sich ein „Persilschein“ besorgen.

Doch statt pauschal zu verurteilen, bringt er Empathie auf für die Bevölkerung, die mit 900 Kalorien am Tag auskommen muss, während sich die Besatzer 2500 gönnen. Es ist fast, als fühle er sich mitverantworlich: „Die Ruinen sind unser Werk. An einem einzigen Wochenende haben wir mehr Bomben auf Hamburg abgeworfen als die Deutschen im ganzen Krieg auf London.“ – „Vergebung ist unsere mächtigste Waffe“, beschwört er einen skeptischen Londoner Minister auf einem Empfang im Hotel Atlantic. „Einem ausgehungerten und zersplitterten Volk kann man nicht Demokratie beibringen. Wenn wir den Leuten genug zu essen und ein Dach überm Kopf verschaffen, ihre versprengten Angehörige zusammenführen und ihnen Arbeit besorgen, dann haben wir von ihnen nichts zu befürchten.“

Wie ernst es ihm mit dem Bestreben ist, die „Herzen und Hirne“ der Verlierer zu gewinnen – die Vokabel „enemy“ (Feind) hat er zum Unwort erklärt –, zeigt eine beispiellose persönliche Entscheidung. Die Kontrollkommission hat für die Morgans eine noble Elbchaussee-Villa requiriert. Normalerweise würden die Bewohner kurzerhand ausquartiert. Zum Entsetzen seiner Frau überlässt der Oberst jedoch dem Eigentümer und dessen Tochter das geräumige Obergeschoss.

Der humane Offizier ist eine Romanfigur, die Hauptperson im jüngsten Buch des britischen Erzählers Rhidian Brook, 49. Die in „The Aftermath“ (etwa: Die Nachwehen) geschilderten Ereignisse hingegen sind verbriefte Hamburger Geschichte. Der „echte“ britische Besatzungsoffizier hieß Oberst Walter Brook und war der Großvater des Schriftstellers. Er amtierte tatsächlich als Bezirksgouverneur in der „Gespensterstadt aus Schutt und Asche“, fuhr wirklich einen Mercedes 540K mit Union-Jack-Stander und beschlagnahmte in der Tat ein herrschaftliches Haus in Blankenese für sich, seine Frau und die drei Kinder, ohne die Eigentümerfamilie namens Ladiges vor die Tür zu setzen. „Dieser einzigartige und spontane Akt der Nächstenliebe lieferte meiner Fantasie den Zündungsfunken zu dem Roman“, erinnerte sich der Autor kürzlich in einem Beitrag für den Londoner „Daily Telegraph“. „Die ersten Wochen hielten sich beide Parteien strikt an die Grenzlinien. Die Ladiges lasen oder beschäftigten sich oben und kamen nur zu den vereinbarten Zeiten zum Klavierspielen in den Brook-Teil, genau wie im Buch. Letztenendes waren die Kinder diejenigen, die das Eis brachen. Sie tummelten sich zusammen im Garten und lernten die Sprache ihrer Spielgefährten. Das Christfest 1947 brachte die Wende. Die beiden Familien feierten gemeinsam, spielten Scharade und sangen Weihnachtslieder auf Deutsch und Englisch. Allmählich wandelte sich das Verhältnis hin zu dem von Gleichen, und als die Familie meines Großvaters im Frühjahr 1952 endgültig abreiste, waren sie Freunde geworden.“

Nach sporadischem Briefwechsel riss der Kontakt zwischen den Familien ab. Aber 2011, bei den Recherchen für „The Aftermath“, trafen Rhidian Brook und sein Vater auch mit den beiden Ladiges- „Kindern“ Heike und Theo zusammen. Die deutsche Übersetzung des Buches erscheint im Frühjahr bei Bertelsmann, und Starregisseur Ridley Scott ( „Gladiator“, „Black Hawk Down“) plant eine Kinoverfilmung gemeinsam mit der BBC. Die ehemalige Ladiges-Villa hat inzwischen andere Besitzer.

„The Aftermath“, Rhidian Brook, gebundene Ausgabe 18,35 Euro (Englisch), deutsche Ausgabe ab Frühjahr 2014 erhältlich