Daniel Barenboim erhielt in einer bemerkenswerten Adventsmatinee auf Kampnagel den Marion-Dönhoff-Preis, Schwester Karola Mayer den Förderpreis. Die Laudatoren waren Anne-Sophie Mutter und Norbert Blüm

Hamburg Die Botschaft, die Daniel Barenboim vor zwei Wochen aus den Händen eines Freundes zu seinem 71. Geburtstag empfing, klingt wie ein kleiner humoristischer Kalendergruß. „Das Leben“, schrieb dieser Freund, „ist in G-Dur. Die Vergangenheit: Geschichte. Die Zukunft: Geheimnis. Die Gegenwart: ein Geschenk.“ Barenboim, ein Weltstaatsbürger im Notenmantel, zitierte dieses leichte, kluge Bonmot zum Abschluss seiner improvisierten Dankesrede, die er gestern Vormittag auf Kampnagel hielt.

Die Wochenzeitung „Die Zeit“, die Zeit-Stiftung und die Marion Dönhoff Stiftung vergeben seit 2003 alljährlich zum ersten Advent einen nach Marion Gräfin Dönhoff, der Mitbegründerin, langjährigen Chefredakteurin und Herausgeberin der „Zeit“, benannten „Preis für internationale Verständigung und Versöhnung“. In diesem Jahr erkannte die Jury ihn dem Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim für sein Lebenswerk zu.

Und das spielt sich, spätestens seit 1999 sichtbar für alle Welt, nicht nur auf dem Klavierhocker oder im Orchestergraben ab. Damals gründete Barenboim gemeinsam mit seinem vier Jahre später verstorbenen Freund, dem amerikanisch-palästinensischen Intellektuellen Edward Said, auf einem Workshop in Weimar das West-Eastern Divan Orchestra. Seitdem spielen darin Musiker aus Israel, den besetzten palästinensischen Gebieten und anderen arabischen Staaten zusammen, um auf der Ebene der Musik das vorzuleben, was alle Politik im Nahostkonflikt bislang schuldig blieb: Aussöhnung, Verständigung, Gemeinsamkeit. Und: zuhören, während man zusammen spielt – oder mit jemandem spricht.

Barenboim, 1942 in Argentinien geboren, als Neujähriger mit den Eltern und den Großeltern nach Israel ausgewandert und seit 22 Jahren in Berlin lebend, zeigte sich bei der Preisverleihung sichtlich bewegt. „Ich bin sprachlos“, bekannte er. „Aber sprachlos oder nicht: Ich nehme an, ich muss ein paar Worte sagen.“ Und dann extemporierte der Musiker eine Rede, in der sich das Autobiografische wiederum fürs Publikum bewegend mit musikalisch Bekenntnishaftem mischte.

Ausgerechnet Richard Wagner, den Antisemiten und dennoch von ihm verehrten Komponisten, rief Barenboim zum Anreger einer seiner Maximen auf. Bei der Analyse des zweiten Akts von Wagners „Parsifal“ war dem Dirigenten eine „unerwartete Modulation“ aufgefallen, nach der Kundry das Wort „Erkenntnis“ singt. „Eine meiner Lieblingsstellen“, sagte Barenboim. Vor allem deswegen, weil acht Takte später eine weitere kühne Modulation Kundrys Wort „Bekenntnis“ vorbereitet. „Erst etwas erkennen, dann sich dazu bekennen: Das ist zu meinem Lebensmotto geworden. Und zu dem des West-Eastern Divan Orchestra.“

Zum Bekennen gehört Mut. Barenboim bewies ihn auch bei dieser Gelegenheit auf Kampnagel. „20 Jahrhunderte lang hielt uns Juden ein Traum zusammen“, sagte er. „Der Traum, mit dem unser Gebet zu Pessach endet: ‚BaSchanah – Nächstes Jahr in Jerusalem.‘ 1948 wurde dieser Traum Wirklichkeit. Aber Jerusalem war nicht leer, Palästina war nicht leer, als der Staat Israel gegründet wurde.“

Es schmerze ihn jeden Tag schon beim Aufstehen, wie Israel, das sich von der verfolgten Minderheit hervorragend zu einem Staat entwickelt habe, nun seinerseits „eine Minderheit zu Hause kontrolliert“. Barenboim zeigte sich pessimistisch hinsichtlich einer Lösung für „zwei Völker, die beide zutiefst davon überzeugt sind, dass sie ein Recht darauf haben, im selben Land zu leben – aber ohne den anderen.“ Arm an Illusion, reich an Vision mahnte der Preisträger, es gelte, endlich anzuerkennen, „dass der andere auch ein Recht hat“. Und ein religiöses Problem sei der Nahostkonflikt nicht: „Religion verlangt zuerst Gerechtigkeit für alle.“

Was Barenboim neben der Ehre und der kundigen, liebevollen Laudatio von Anne-Sophie Mutter auf ihn an diesem Adventsmorgen wohl ebenso berührte: Die Dönhoff-Förderpreisträgerin Schwester Karoline Mayer. Mittlerweile frei von konfessioneller Einengung, übt die einst als „camouflierte kommunistische Nonne“ bezeichnete Ordensfrau eine zutiefst spirituelle Lebenspraxis der (Nächsten-)Liebe.

Für ihre karitative Arbeit in Chile, die sie ungeachtet mancher Repressalien auch während des Pinochet-Regimes fortführte, wurde Mayer mit dem Förderpreis (20.000 Euro) ausgezeichnet. „Jesus ist mein Meister“, sagte die 70-jährige Frau, die weiterhin unermüdlich für die Armen auch in anderen Ländern Lateinamerikas Kindergärten, Suppenküchen und Krankenstationen aufbaut. Wie identisch sie mit ihrer Aufgabe ist, zeigt ihr aus tiefer Lebenserfüllung strahlendes Gesicht.

Norbert Blüm, einst Arbeitsminister unter Helmut Kohl, hielt eine Lobrede auf Karoline Mayer, die ihn als gewitzten Prediger auswies und als Redner von bestechendem Format. So war dieser Preisverleihung, einer Sternstunde der politischen Kultur, auch ein Wermutstropfen beigegeben. Sie machten das Fehlen von Leuten wie Blüm auf der politischen Bühne der Gegenwart phantomschmerzlich deutlich.

Daniel Barenboim kommt nächste Woche erneut nach Hamburg, um hier seinem Lebenswerk als Pianist eine schimmernde Facette hinzuzufügen: Er spielt späte Klaviersonaten von Franz Schubert. „Sie sind so intim wie Tagebücher“, sagte Barenboim dem Abendblatt nach der Preisverleihung. „Schubert kann durch eine kleine Modulation den ganzen Charakter eines Stücks verändern. Beethoven braucht dafür immer Zeit und Dynamik. Bei Schubert passiert das auf engstem Raum.“

Hamburg hat Barenboim in bester Erinnerung, vor allem den „hervorragenden Saal“ der Laeiszhalle. Freut er sich auch auf ein gewisses, schon seit Längerem überfälliges Konzerthaus an der Elbe? Barenboim, selbst mit Sanierungsproblemen an der Staatsoper Berlin gesegnet, lacht schallend. „Die drei sollten eine neue Stiftung gründen! Staatsoper Berlin, Elbphilharmonie und der Flughafen BER!!“

Daniel Barenboim, Schubert-Recital Laeiszhalle, Mo, 9.11., 19.30, Tickets: 35 35 55