„Spiegel“-Reporter Jürgen Leinemann erkrankte vor sechs Jahren an Zungengrundkrebs und hat darüber ein ergreifendes Buch geschrieben hat. Jetzt ist er im Alter von 76 Jahren in Berlin gestorben.

Hamburg Es war einmal eine Zeit, da war Journalismus und Kunst beinahe dasselbe. Ein guter Journalist, das war so etwas wie ein Maler, Filmemacher, Kameramann und Schriftsteller in einem, jemand, der genau hinschauen, Atmosphären lebendig werden lassen, fein ziselierte Bilder entwerfen und wortmächtig beschreiben konnte. Jürgen Leinemann war einer der Besten. Von 1971 bis 2007 war er Reporter und Büroleiter beim „Spiegel“, aus Bonn, Washington und Berlin lieferte er Einblicke ins Innenleben der Politik, porträtierte Politiker mit sprachlicher Brillanz und analytischer, psychoanalytischer Schärfe, dass man als Leser dachte, der Beschriebene würde erschrocken in sein Inneres blicken und dort Abgründe erkennen können, die er sich selbst bisher noch nicht eingestanden hätte. Nun ist Jürgen Leinemann, der vor sechs Jahren an Zungengrundkrebs erkrankte, darüber ein ergreifendes Buch geschrieben hat („Das Leben ist der Ernstfall“), der seit Jahren nicht mehr sprechen konnte und künstlich ernährt wurde, im Alter von 76 Jahren in Berlin gestorben.

Leinemann hat viele Preise erhalten. Er war ein Künstler seines Fachs und spürte lange vor anderen gesellschaftlich wichtige Entwicklungen auf. Leinemann war einmal Alkoholiker gewesen, er kannte sich aus mit Süchten. Die Politik, das wusste er, löst eine der stärksten Süchte aus, eine immerwährende Abhängigkeit von Macht, Applaus, Wichtigtun, Anerkennung, Informationsvorsprung, Deutungshoheit, Intrigenspiel, Allianzenschmieden, vom Hochgefühl, überall gebraucht zu werden und unentbehrlich zu sein – Leinemann hat den Realitätsverlust von Politikern, die alle in einer Parallel- und Scheinwelt leben, in seinem Buch „Höhenrausch“ thematisiert. „Man möchte kein Politiker sein, wenn dieser Mann über einen schreibt“, las man in der „FAZ“ über Leinemann, der immer objektiv war und Distanz wahrte.

Sein früherer Herausgeber Rudolf Augstein nannte Leinemann einen hochgebildeten „Homme de Lettres“. Leinemann war gelernter Historiker, las Tucholsky und Kerr, um sich beim Schreiben inspirieren zu lassen. Über den 64-jährigen Helmut Kohl schrieb Leinemann in einem Porträt, aus dem man keine Zeile missen möchte: „Da er aber bekanntlich nicht zu dialektischem Denken neigt, sondern dazu, instinktive Einschätzungen und ritualisierte Gewissheiten emotional einzuweichen und zu einem Symbolbrei zu verrühren, bleiben seine Visionen von der Zukunft so vage wie ,das menschliche Gesicht unseres Landes‘.“ Über Joschka Fischer, der seinen Auftritt auf dem Bundespresseball mittels kräftiger Leibwächter inszeniert, schrieb Leinemann: „Im hektischen Feuer der Blitzlichter bahnte er sich – rechte Hand in der Tasche, linke Schulter vorgeschoben, Kopf gesenkt – mit unbewegter, düsterer Miene seinen Weg durch die Sperrwand der Mikrofone. Der einstige Streetfighter wirkte so, als wolle er den Saal besetzen.“

Über Helmut Schmidt schrieb Leinemann: „Gekonnt inszenierte er seine Bedeutung. Sobald das Rotlicht der Kamera aufleuchtete, saß Schmidt in Positur. Er hatte seine Pfeife angezündet und hielt mit einer stählernen Aura des Wissens, der Kompetenz und der Entscheidungsstärke die Frager auf Distanz. Noch wenn er lächelte, zeigte er Biss.“ Auch ein Blick auf Gerhard Schröder verrät Leinemanns Können: „Wer ihn im Wahlkampf beobachtete, erlebte ein Model bei der Arbeit. In Ruhepausen konnte er grau und konturlos zerfließen. Doch wenn die Kameras klickten, verwandelte sich sein Gesicht in eine blühende Landschaft. Als hätte in seinem Kopf jemand einen Schalter umgelegt, strafften sich seine markigen Züge. Die Stimme vibrierte, eisblau blitzten die Augen.“ Vor zehn Jahren sagte Leinemann über Angela Merkel: „Wenn ich sehe, wie sie mit dem Apparat umgeht, was für ein Kontrollfreak sie geworden ist, wie machtfixiert sie auftritt, dann muss ich sagen, das ist Helmut Kohl II.“

Journalisten wie Leinemann haben ihre Leser in eine Welt geführt, die diese alleine nie hätten betreten können. Leinemann hat hart gekämpft. Es heißt, diese Form des Journalismus, der gründlichen Recherche, der kunstvollen Schreibe, habe sich überlebt. Die Leser wollten schnelle Informationen, Neuigkeiten aus dem Netz.

Schwer zu glauben. Wer soll uns die Limitierungen der Menschen, der Politiker vor Augen führen, wenn nicht einer, der alles gibt, um genau und wahrhaftig zu sein? Ach, man wüsste gern so vieles mehr, was an den Schreibtischen der Banken, in den Hinterzimmern der Aufsichtsräte, am Koalitionsverhandlungstisch, bei der FDP und auf den G8-Sitzungen beispielsweise passiert. Jedenfalls ansatzweise. Ein Wahrheitssucher wie Jürgen Leinemann konnte davon erzählen. Er ließ das Bohei weg und das Geschwafel. Er fand zur Wahrheit. Gut möglich, dass er damit manch eine politische Entscheidung herbeigeführt hat. So einer wird fehlen.