Die neuseeländische Regisseurin Jane Campion (“Das Piano“) hat mit „Top of the Lake“ eine spannungsgeladene Mystery-Miniserie im Stil eines David Lynch gedreht. Zu sehen ab Donnerstag auf Arte.
Ein Mädchen ist verschwunden. So beginnen die allerschaurigsten Geschichten, die es nicht selten in die Nachrichtensendungen schaffen, Tragödien unfassbaren Ausmaßes. Ein Mädchen ist verschwunden. So beginnen auch die nervenaufreibendsten Kriminalgeschichten, von Dürrenmatt bis Simenon. Nicht zufällig steht im Mittelpunkt der Miniserie „Top oft the Lake“ von Jane Campion, der Grande Dame des neuseeländischen Kinos, ebenfalls ein Mädchen, von dem am Ende der ersten Folge jede Spur fehlt. Die zwölfjährige Tui marschiert geradeaus in einen Bergsee, immer tiefer, bis nur noch ihre Nasenspitze zu sehen ist. Eine Nachbarin kann das Mädchen herausreißen. Tui will nicht mehr leben. Sie ist im fünften Monat schwanger. Wer der Vater ist, will sie nicht sagen. „No One“ schreibt sie auf den Zettel, den ihr die Ermittlerin zuschiebt. Ihre Augen scheinen zu sagen: Es hat doch sowieso keinen Sinn. Dann verschwindet sie.
Elisabeth Moss, bekannt als Jungwerberin Peggy in „Mad Men“, spielt die Polizistin Robin Griffin, die aus Australien in das kleine Kaff Lake Top zurückgekehrt ist, um ihre kranke Mutter zu pflegen, und sich in den Fall Tui verbeißt wie ein ausgehungertes Nagetier. Ihr somnambules, ungeschminktes Gesicht ist ein unbeschriebenes Blatt. Was hinter der Studentinnenfassade steckt, warum Robin das Niemandsland zwischen bewaldeten Bergen und dunkel-verträumten Seen so sehr hasst, dass sie einst Hunderte Kilometer weit weg geflohen ist, wird erst ein paar Folgen später an der Pubtheke deutlich.
Die Serie, die im Februar auf der Berlinale Deutschlandpremiere feierte, fasziniert vor allem durch ihre stimmungsvolle Verpackung. Die Kamera liefert Bilder von so erlesener Schönheit, dass die Menschen oft nur noch Teil einer kunstvollen Komposition sind. Das Herbstlaub tanzt und die kleine Welt hängt schon allein deshalb voller bedrohlicher Vorzeichen, weil die Einwohner von Lake Top eine gewisse Schrägheit besitzen. Man könnte auch sagen: Die meisten von ihnen haben einen ordentlichen Knall. Das fängt an bei Tuis bärtigem Zausel-Vater, der gern mit Waffen herumballert und Frauen als „Fotzen“ bezeichnet, und endet bei der von Holly Hunter gespielten Clan-Anführerin mit grauer Haarmatte, die mitten in überwältigend schöner Landschaft ein Resozialisierungscamp für psychisch angeschlagene Frauen ins Leben gerufen hat. Sie selbst döst apathisch im Schaukelstuhl vor sich hin, wirft mit orakelhafte Halbsätzen um sich. Man muss bei dieser Konstellation aus Schauerlandschaft im Morgenlicht, Mysterythriller und Typen mit Hang zur seelischen Schieflage natürlich an David Lynch und seinen Vorstadtalbtraum „Twin Peaks“ denken, die Mutter aller ambitionierten Serien. Wie bei Lynch zeigt auch Campion Frauen als Opfer. Als Lebewesen, denen die Gefühle in den Knochen sitzen und die bei der besessenen Verfolgung ihrer Ziele vom Weg abkommen sind.
Nach den Kinoregisseuren Martin Scorsese („Boardwalk Empire“), Todd Haynes („Mildred Pierce“) und David Fincher („House of Cards“) hat nun auch Jane Campion das Fernsehen als Spielwiese für Geschichten entdeckt, die voller Irritationen und Spannung stecken. Der Reiz von „Top of the Lake“ liegt denn auch in seiner elliptischen Erzählkunst und den doppelbödigen Bildern. Der Zuschauer traut der Ruhe nicht, zu keinem Zeitpunkt. Er vermutet Gespenster, wo gar keine sind. Sondern nur verschwundene Mädchen.
„Top of the Lake“, ab Donnerstag, 7.11., 20.15 Uhr, Arte