Grimme-Preisträger Dominik Graf inszeniert zum zweiten Mal einen Münchner „Tatort“ – und erzählt ein Familiendrama mit mehrfach tödlichem Ausgang
Morde, die gar keine Morde sind. Ein Kommissar ohne Wohnung auf der Durchreise. Eine ehemalige Zirkusprinzessin mit dunkler Vergangenheit und eine Stadt, die im Korruptionssumpf versinkt. Unstimmigkeiten, Ungereimtheiten dieser Art gefallen Dominik Graf, dem abgeklärten, hoch professionellen Genrefilmregisseur, der an diesem Wochenende den zweiten Münchner „Tatort“ seiner Karriere inszeniert.
Dass auf den ARD-Zuschauer nicht die übliche Krimikost mit fader Ermittlersoße wartet, wird schon beim Vorspann klar. Denn Graf setzt dem üblichen „Tatort“-Intro einfach eine zweite Ouvertüre obendrauf, die seinen Film klar verortet; die Lust macht auf Bewegung, verruchtes Großstadtleben und die Magie von Riesenrädern. Ein Auftakt wie es sich gehört für einen Polizeithriller, der sich in die DNA einer Stadt bohrt und die schmutzigen Heimlichkeiten seiner Figuren aufdeckt.
Städte am Abgrund sind das Spezialgebiet des zehnfachen (!) Grimme-Preisträgers Graf; daraus entwickelt er einen vibrierenden Sog, in dem alles Geste und Geheimnis ist, jeder Blick und jedes Zucken zählt. „Aus der Tiefe der Zeit“ (Drehbuch: Bernd Schwamm) erzählt vordergründig von einem Korruptionsskandal in der Münchner Baubehörde, von der Gentrifizierung des Zuwandererviertels Westend, das aufgerüscht werden soll.
Dominik Graf setzt auf Überforderung statt auf Konsens-Dialoge
Tatsächlich wird der Zuschauer Zeuge eines überbordenden Gesellschaftskrimis, eines Familiendramas mit mehrfach tödlichem Ausgang, das seinen Anfang nimmt, als in einer Baugrube ein seit Monaten vermisster Mann gefunden wird. Es ist der Adoptivsohn der einst legendären Artistin Magda Holzer, die mit ihrem Anhang (Meret Becker, Martin Feifel) in einer Nobelvilla residiert und so viel dunklen Staub auf ihrer Seele trägt, dass sie zu einer grantelnden Alten geworden ist.
Es liegt auf der Hand, dass Grafs „Tatort“-Gastspiel keine ähnlich sensationelle Quote einspielen wird, wie es vergangenen Sonntag Lars Jessens Münster-Debüt vorgemacht hat. Graf ist ein Regisseur, der auf Überforderung setzt statt auf Konsensdialoge, der nichts von linearen Handlungssträngen hält, dafür umso mehr von schnellen Schnitten, irren Zooms und einer Tonspur, die klingt wie Polizeifunk in der Dauerschleife. Belohnt wird der Zuschauer mit einer Stadt, die endlich mal ein Gesicht zeigt und nicht so austauschbar daherkommt wie eine Pappkulisse. Mit zwielichtig-komplexen Charakteren wie man sie selten sieht im deutschen Fernsehen und einer Art Sexappeal, der nahezu ausgestorben scheint.
Die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr (Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl), die auf derart sympathische Weise aufeinander eingespielt sind, dass jeder Seufzer, jeder Biss in die Feierabendpizza sitzt, fügen sich punktgenau in Grafs Unterweltpanorama, das sich dem Würgegriff des Genres immer aufs Neue entwindet und Platz schafft für Ellipsen, für Exkurse. Graf gibt der Geschichte Raum, sich von sich selbst zu entfernen, auch das macht ihren Reiz aus. In einer wunderbaren (nach herkömmlichen Dramaturgiegesetzen wenig zielführenden) Szene turnt Meret Becker als Eventmanagerin Liz eine Runde Ballett im Verhörraum. Wie ein gefallener Engel liegt sie am Boden; man kann sich der Faszination schwer entziehen.
Dominik Graf, bekennender Anhänger des 70er-Jahre-Kinos, weiß genau, dass es am Ende nicht nur um gescheite Plots geht, sondern um visuellen Mehrwert, ästhetische Verschwendung und Figuren, die mit hohem Einsatz spielen: Geld, Liebe, Macht. Der Regisseur erzählt keine Geschichte, die leicht über die Lippen kommt; er hat einen Film gedreht, der einen Kloß im Hals zurücklässt. Wie bereits in „Frau Bu lacht“, seiner Münchener „Tatort“-Premiere, von der man heute immer noch spricht, sowie im Mafia-Epos „Im Angesicht des Verbrechens“.
Til Schweiger hat einst lange rumgejammert über die Biederkeit des „Tatort“-Vorspanns. Dominik Graf hat einfach seinen eigenen Film gedreht.
„Tatort: Aus der Tiefe der Zeit“, Sonntag, 20.15 Uhr, ARD