Starke Eröffnung des Theaterfestivals mit Ulrich Matthes und Susanne Wolff in „Ödipus-Stadt“. Man sieht beratungsresistente, machtgierige Männer, die Führungsstärke mit Hochmut verwechseln.

Hamburg. Wir feiern das Theater“, sagte Nikolaus Besch. So einfach ist es manchmal. „Wir feiern das Theater – und meinen das Ganze: Die Stücke, die Schauspieler, die Regisseure, die Spielstätten.“ Der Intendant des Hamburger Theaterfestivals hätte kaum treffendere Worte finden können zur mittlerweile fünften Eröffnung eines Gastspielreigens, der schließlich auch in diesem Jahr nicht weniger ist als eben das: ein echtes Theaterfest. Und, wenn man dem Ersten Bürgermeister glauben darf: „Ein Grund mehr, Hamburg nicht zu verlassen.“ Wozu, fragte Olaf Scholz in seiner Begrüßungsrede (und zugegebenermaßen nicht ohne Augenzwinkern), solle ein Theaterfreund noch nach Berlin, München oder Wien reisen, wenn es doch das Hamburger Theaterfestival gibt?

Es gäbe da schon einen Grund: Um sich ein Stück wie das zur Eröffnung gezeigte einfach noch einmal anzuschauen – weil es es so gnadenlos gut ist. Der Text, die Schauspieler, die Lesart. Mit „Ödipus Stadt“, einem Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin, an dessen Spitze mit dem früheren Thalia-Intendanten Ulrich Khuon ein alter Bekannter steht, legt Stephan Kimmig auf Kampnagel die Pathologie der Macht offen. Er zeigt in seiner „Theben-Trilogie“ mächtige Männer (alle im Rock) und die so oft auf den Bühnen gesehene Geschichte des Vatermörders und Muttergatten Ödipus sowie seiner Verwandtschaft derart bezwingend, dass sie trotz des wohlbekanntes Stoffes tatsächlich vor allem eines ist: spannend!

Man fiebert geradezu mit, hört staunend, beobachtet mit angehaltenem Atem Ulrich Matthes, wie er als Ödipus langsam begreift, was er getan hat. Schaut Susanne Wolff als Kreon dabei zu, wie sie/er den entgegengesetzten Weg nimmt: Ödipus’ Weg führt von der Macht zur Erkenntnis, Kreons von der Erkenntnis zur Macht. Und damit – in beiden Fällen – direkt ins Verderben.

Kimmig und sein Dramaturg John von Düffel verschlanken gleich vier antike Tragödien zur zweieinhalbstündigen (und pausenlosen) Trilogie „Ödipus Stadt“: Sophokles’ „König Ödipus“, die „Sieben gegen Theben“ des Aischylos, „Die Phönizierinnen“ des Euripides und zum Abschluss noch einmal Sophokles mit seiner „Antigone“. Der Chor ist gestrichen, das Bühnenbild von Katja Haß eine schlichte hölzerne Halfpipe, in der die Protagonisten verzweifelt gegen die Rückwand und damit auch gegen ihr Schicksal anrennen können.

Man sieht: Beratungsresistente machtgierige Männer, die Führungsstärke mit Hochmut verwechseln. Die Texte, klar übersetzt von Gregor Schreiner, sind frappierend aktuell: „Es gilt Gehorsam!“ – „Nicht dort, wo einer schlecht befiehlt.“ Oder: „Langsame Rede macht die Einsicht reif.“ Oder: „Schlecht regiert die Macht, die sich auf Unrecht gründet.“ Wie ungemein klug und von verblüffender Allgemeingültigkeit diese Sätze sind, auch wenn das Gezeigte etwas so Archaisches hat. Es sind die großen Familientragödien, die großen Themen Rache, Verrat, Ehre, Vorsehung, Schicksal. Und immer wieder Politik.

Die Schauspieler zeigen in jeder Sekunde, was starkes Theater ausmacht: der Sprache Raum und Körper geben. Man versteht jedes Wort, sieht jede angespannte Sehne an Ulrich Matthes schmalem Körper und die unglaubliche Kraft und Ruhe der Susanne Wolff. Überhaupt, Susanne Wolff, was für ein Glück, ihr zusehen zu dürfen: wie sie klar und von stolzer Festigkeit anfangs die Vernunft spielt und sich zum Ende in die nahezu prollige, sowohl sprachlich als auch körperlich wahrnehmbare Fratze der Macht verwandelt. Alle beweisen eine enorme Präsenz, als seien sie miteinander und mit dem Publikum durch unsichtbare (aber fühlbare!) Energiebänder verbunden, jeder für sich ein strahlendes Kraftzentrum. Ohne jede „vorgespielte“ Ergriffenheit zeigt Matthes eine beklemmende Härte. Wie er den Vatermord in der Nacherzählung noch einmal genussvoll durchlebt, bevor die Erkenntnis ihn erschüttert, ist nur einer von vielen atemberaubenden Momenten.

Dass von Düffel und Kimmig den Chor abgeschafft haben, ergibt Sinn: Das Publikum ist der Chor. Und er ist: stumm. Demokratie? Gestrichen. Macht oder Ohnmacht – entweder oder. Karin Beier hat sich zum Auftakt ihrer Intendanz am Schauspielhaus dieselben Themen vorgenommen. Die alten Griechen, sie wissen, wie es heute läuft.