Der erste „Polizeiruf 110“ aus Magdeburg mit Claudia Michelsen und Sylvester Groth in den Hauptrollen spielt im rechtsradikalen Milieu. Regie führt der Hamburger Friedemann Fromm.

Ihr Energielevel ist zutiefst beunruhigend. Gegen den Kräfteüberschuss hilft auch nächtliches Joggen nicht. Für Hauptkommissarin Brasch, der Magdeburger Lederjackenermittlerin mit komplizierter Vergangenheit, ist das Beamtenkorsett einfach ein paar Nummern zu eng. Mit anderen Worten: Wäre Schimanski eine Frau, sie sähe aus wie die von Claudia Michelsen verkörperte Doreen Brasch, die über ihren Vornamen Stillschweigen bewahrt. Die Ära der großmauligen, zupackenden Fernsehkommissarinnen, die sich nicht damit begnügen, sich in Täterköpfe einzufühlen, hält also an. Zuletzt hatte ja Nina Kunzendorf in diesem Bereich alle anderen Ermittlerinnen aus dem Feld geschlagen; nach ihrem Weggang aus dem Frankfurter „Tatort“ ist die Bühne nun frei für Kommissarin Brasch, ihre verbalen und tatsächlichen Kinnhaken.

„Der verlorene Sohn“ heißt der neue „Polizeiruf 110“ aus Magdeburg, der kommenden Sonntag Premiere hat und vom Hamburger Regisseur Friedemann Fromm inszeniert wurde. Die Düsternis liegt wie ein schwerer Samtvorhang über diesem Film, der eigentlich ganz unterhaltsam losgeht, nämlich mit einem ordentlichen Kneipenbesäufnis. Doch bevor sie zu hochprozentigen Höchstleistungen auflaufen kann, wird Brasch zum Tatort gerufen: Ein afrikanischer Asylbewerber ist tot in einem Fitnessstudio aufgefunden worden; an seiner Kleidung finden sich Spuren von Gotcha-Munition. Ein rechtsextremistischer Hintergrund drängt sich (trotz Anabolika-Päckchen neben der Leiche) geradezu auf, weshalb Brasch und Kollege Drexler (Sylvester Groth) den städtischen Neonazis auf die Finger klopfen. Johannes Klaußner, Sohn des Haneke-Schauspielers Burghart Klaußner, gibt den fremdenfeindlichen Oberfiesling, der nie um ein kaltes Lächeln verlegen ist. Und Brasch kippt fast vorneüber, als sie ihren eigenen Sohn inmitten der Truppe entdeckt, ein schmaler junger Mann, der seine Wurzeln gegen eine zweifelhafte Ersatzfamilie getauscht hat. So wie man sich eine neue Jacke zulegt, wenn die alte nicht mehr passt. „Der verlorene Sohn“ ist in diesen, seinen stärksten Szenen mehr als nur ein Sonntagskrimi mit Hauptverdächtigen; er ist ein Film über Einsamkeit und Angst. Über Menschen, die ihrer Angst davonlaufen, der Angst, alt zu werden, entlassen, verlassen.

Was die soziale Härte angeht, die Arbeiterklasse und Absackerkneipen, erinnert dieser „Polizeiruf“ an das Rostocker Vorbild, das ebenfalls über Kommissare verfügt, die man sich an Tresen und Tankstelle vorstellen kann. Groth muss sich in dieser Pilotfolge mit einem dürren Part zufriedengeben, mit Dolchblick und einem bleistiftdünnen Lächeln über der Salatbox ohne Dressing. Drexler ist ein Bremser, Brasch gibt in jeder Sekunde Vollgas. Was die Atmosphäre im Präsidium mit Mehrzweckhallencharme mitunter angespannt wirken lässt. Fast schon klar, dass Brasch Motorrad fährt als hätte sie von Geschwindigkeitsbegrenzungen und Einbahnstraßen nie gehört. Was richtig und falsch ist, bestimmt sie immer noch selbst. Wenn das Schicksal sie denn lässt.

„Der verlorene Sohn“ ist ein zutiefst beunruhigender Film über junge Menschen auf der Kippe und eine Stadt am Abgrund.

„Polizeiruf 110 — Der verlorene Sohn“, Sonntag, 13.10., 20.15 Uhr, ARD