Der neueste Film der Schauspielikone ist der (teilweise in Hamburg) gedrehte Vampirfilm „Only Lovers Left Alive“ von Jim Jarmusch. Swinton spielt mit weißer Walle-Mähne die unsterbliche Nachtgestalt Eve.

Hamburg.Identität. Vielleicht ist dies das große Lebensthema von Tilda Swinton. Wer bist du? Wohin gehst du? Aber genauso: Welche Person könntest du ebenso gut sein? Welche Dinge lauern hinter der Maske? „Mich interessiert sehr, wenn Menschen etwas zustößt, das ihre Welt komplett erschüttert“, sagt Swinton und lässt sich abwartend in die Polster des roten Samtsofas plumpsen, das dem steifen Hotel-Konferenzraum ein wenig Wohnzimmeratmosphäre verleihen soll. Erste (unausgesprochene) Maxime bei einer Begegnung mit Tilda Swinton: Du sollst nicht langweilen. Bloßes Abfragen von Lieblingsfilmen, Lieblingsorten und (auf dem roten Teppich) Lieblings-Für-immer-jung-Beautyprodukten, kommentiert die britische Schauspielerin mit knappen Antworten und gleichgültig-höflichem Lächeln.

Man muss schon die großen Begriffe von Leben und Kunst, Liebe und Tod in die Waagschale schmeißen, um die Empathie der Schauspielerin herauszukitzeln. Oder auf die unterschiedlichen Figuren zu sprechen kommen, denen sie in den vergangenen Jahren Leben eingehaucht hat, der durch die Tage schwankenden Alkoholikerin Julia im gleichnamigen Film zum Beispiel. Der Mutter eines Highschool-Amokläufers in „Wir müssen über Kevin reden“ und aktuell der Vampirsfrau Eve in Jim Jarmuschs „Only Lovers Left Alive“. „Ich spiele wahnsinnig gern Figuren, die plötzlich wachgerüttelt werden vom Leben“, sagt Swinton und lacht dieses berühmte kleine Tilda-Swinton-Lachen, in dem die ganze Lust nachklingt, Grenzsituationen auszutesten, der genormten Langeweile einen Haken zu schlagen.

Tilda Swinton, Oscar-Preisträgerin, Ikone des Independent-Kinos, Performancekünstlerin und Cineastenliebling, ist nach Hamburg gekommen, um den Douglas-Sirk-Preis entgegenzunehmen, den wichtigsten Preis, den das Filmfest zu vergeben hat. „Wo Tilda Swinton ist, ist Kunst“, begründete Festivalleiter Albert Wiederspiel die Wahl — und wer je einen Film mit der 52 Jahre alten Schauspielerin gesehen hat (was wohl auf jeden der 800 Gäste im Cinemaxx-Kino zutreffen dürfte), versteht sofort, was er meint. Tilda Swinton bringt Filme von innen heraus zum Leuchten. Experimentalkunst genauso wie Blockbusterstoffe. Ob als weiße Hexe von „Narnia“ oder als Edelmann in der Virginia-Woolf-Verfilmung „Orlando“ — Swinton ist das wohl eindrucksvollste Chamäleon der gegenwärtigen Filmlandschaft, zum Risiko allzeit bereit. In „Only Lovers Left Alive“, diesem traurig-beschwingten Vampirdrama, zieht sie als weißhaariges Nachtmonster durch die nächtlichen Straßen, vollführt einen Hüftschwung, wie man ihn eindrucksvoller auf den Laufstegen von Paris nicht zu sehen bekommt. Allein um Swinton bei ihrem (Über-)Lebenstanz zuzusehen, dabei, wie sie genüsslich an einem blutgetränkten Eis am Stiel leckt, lohnt sich der Film.

Im Grunde seien doch alle Jarmusch-Filme Vampirfilme, sagt Swinton und streicht den schmal geschnittenen schwarzen Hosenanzug glatt, der sie wie eine besonders gute Mischung aus Stummfilmstar und Grunge-Anhängerin aussehen lässt. Es gehe um Sterblichkeit, Außenseiter, Helden der Nacht. Jarmusch und Swinton sind Seelenverwandte in der Kunst, privat sind sie enge Freunde. Wie gern wäre man bei ihrer ersten Begegnung dabei gewesen, damals, weit nach Mitternacht auf einem Clubkonzert, im Backstage-Bereich der Band. Es funkte sofort. Wenige Tage später schrieb Jarmusch einen Brief, in dem er die Schauspielerin bat, eine der wütenden Ex-Frauen von Bill Murray zu spielen im Midlife-Crisis-Drama „Broken Flowers“. Ein hübscher Zufall, dass es ausgerechnet eine nächtliche Konzertszene war, die Jarmusch und Swinton vergangenes Jahr nach Hamburg führte, in einen Hinterhof von Ottensen. In „Only Lovers Left Alive“ testet die Vampir-Clique einen Abend lang den Geschmack des ganz normalen Lebens — es sieht nicht aus wie Hamburg und es soll auch gar nicht Hamburg sein. Aber allein das Gefühl, dass die Realität es nun mal so wollte, weht bei der Deutschlandpremiere im Cinemaxx durch den Kinosaal wie ein stolzer Wink des Schicksals.

Dass zwischen der Tilda Swinton von heute und der jungen Schauspielerin von damals viele Jahre liegen mögen, aber keine merkenswerte Typveränderung, beweist auch diese Sirk-Preis-Gala. Der Hamburger Regisseur Klaus Wyborny erzählt in seiner Laudatio vom Dreh mit Swinton im Jahr 1986. Dies ist kein Moment, der Filmgeschichte schreiben wird, dafür ist er viel zu flüchtig – aber wenn es darum geht, die Freiheit des Filmemachens eines bestimmten Jahrgangs auf den Punkt zu bringen, die Arbeitsmoral der Tilda Swinton in ein Bild zu fassen, gibt es vielleicht keinen besseren. Swinton war mit Christoph Schlingensief nach Hamburg gekommen; in einer Kneipe in der Langen Reihe traf sie auf Wyborny, der ihr von einem Südsee-Filmprojekt erzählte. Der Abend endete damit, dass Swinton ihm erklärte, an welche Adresse er das Flugticket für die Fidschi-Inseln schicken sollte. Und so kam es, dass Swinton 1986 in nur kurzem Abstand für Wybornys (der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten) Film „Das offene Universum“ sowie für Schlingensiefs (im bittersten Winter auf der Hallig Langeneß entstandenen) Experimentalfilm „Egomania“ vor der Kamera stand. Deutsches Autorenkino heiß und kalt — auch das hat Swinton mitgeprägt.

Wenn sie Derek Jarman nicht getroffen hätte, den Regisseur und Lebensfreund, sie hätte wohl niemals Filme gedreht, erzählt Swinton und sieht mit ihrem transparenten Teint, dem keine Schminke, keine Botoxnadeln seine Natürlichkeit genommen haben, plötzlich sehr ernst aus. Ein Kino ohne Tilda Swinton — man muss es sich zum Glück nicht vorstellen.