Bestsellerautorin Cornelia Funke (“Tintenherz“) besucht das Reeperbahn Festival als Pionierin neuer digitaler Ideen in der Literatur. Ein Gespräch über Apps – und Rock’n’Roll.

Hamburg Ein früher Mittwoch auf St. Pauli. Noch sind die Straßen leer, aber auf dem Spielbudenplatz und in den Clubs bereitet man sich schon auf das Reeperbahn Festival vor. Aus der ganzen Welt kommen Tausende Musiker, Journalisten und Medien-Experten, um Bands zu sehen und sich auszutauschen. Darunter ist auch die weltweit erfolgreiche Jugendbuch- und Fantasy-Autorin Cornelia Funke („Tintenherz“, „Reckless“), die an diesem Donnerstag eine Einführungsrede zum Thema digitale Medien auf dem Festival-Branchentreff „Campus“ hält. Wir treffen sie unweit der Esso-Tankstelle im Büro von German Wahnsinn, die Funkes fantastische Welten für Leseshows und Apps mit Musik und anderen Klängen versehen.

Hamburger Abendblatt: Frau Funke, das Reeperbahn Festival steht für vier Tage Rock-’n’-Roll-Wahnsinn und weniger für das vermeintlich beschauliche Thema Literatur. Was zieht Sie auf den Kiez?

Cornelia Funke: German Wahnsinn hat die Musik geschaffen, die meine „Reckless“-Leseshows begleitet. Und als das Team mitbekommen hat, dass ich in Los Angeles mit den Entwicklern der Mirada-Studios eine App entwickle, haben sie mich und den Mirada-Produzenten Andy Merkin zum Reeperbahn Festival „Campus“ eingeladen, weil sich hier alles genau wie in unserer App mischt: Kunst in Text, Musik, Bild und Ton.

Ihre App „Mirrorworld“ für das iPad wurde bereits auf dem Filmfestival von Cannes ausgezeichnet. Aber wie funktioniert sie genau?

Funke: Sie erzählt Geschichten, die auf den ersten beiden „Reckless“-Bänden basieren, aber anders als ein Buch: Sie nimmt Elemente aus Film, Illustration und Musik auf. Im Prinzip gehen die Anwender durch die Abenteuer und erleben die Spiegelwelt so, wie ich sie vor mir sehe. Zum Beispiel in Kurzfilmen, die wir selber gedreht haben. Oder durch die Rezepte kinderfressender Hexen. Es ist wie ein virtueller Reiseführer in eine Welt, die durch die digitalen Möglichkeiten viel größer, viel reicher geworden ist. Selbst ich sehe meine Welt nun deutlicher. Früher hatte ich vielleicht einen Bleistift für eine Illustration, mehr nicht. Oder die falschen Bilder auf der Kinoleinwand. Das hat mich oft frustriert.

Ein klassisches Buch weckt ja das Kopfkino, die Fantasie des Lesers. Schränkt die App „Mirrorworld“ diese Fantasie nicht eher ein?

Funke: Nein, wir wollen die Fantasie noch weiter anregen, indem man die Abenteuer auf mehreren Ebenen erlebbar macht. Auch „Drachenreiter“ und „Tintenherz“ wollen wir so umsetzen.

Der erste Band von „Tintenherz“ erschien vor zehn Jahren, seitdem hat sich die Welt der Bücher enorm verändert. Kann man sagen, dass Sie eine Pionierin des digitalen Wandels in der Literatur sind?

Funke: Das sagt man sogar in den Staaten. Keiner hat das bisher so gemacht, da haben wir bei null angefangen.

Wenn sich diese Art des Erzählens tatsächlich durchsetzt, wird es dann einen hohen Anpassungsdruck auf Verleger und Autoren geben?

Funke: Ich glaube, das wird noch dauern. Wir haben den ersten Pfad in unerforschtes Land gebahnt, und noch ist nicht zu sehen, ob jemand dem Pfad folgt. So etwas zu entwickeln ist auch sehr teuer.

Sie haben ja ein, zwei Bücher verkauft und können daher auch mal etwas mehr riskieren.

Funke: (lacht) Richtig. Trotzdem braucht man Geduld. Wir haben zum Beispiel auch unsere Texte auf dem Kindle mit Illustrationen veröffentlicht. Das war nicht einfach, aber das Ergebnis war die Mühe wert – und in den USA ist das sehr wichtig. Dort dominiert schon längst der digitale Markt die Literatur.

Am Donnerstag lesen Sie auch in der Hamburger Zentralbibliothek aus „Reckless“, was zeitgleich in zehn weitere Stadtteilbibliotheken live übertragen wird. Befürchten Sie, dass es in zehn Jahren keine Bücherhallen, wie wir sie kennen, geben wird?

Funke: Büchereien haben mich als Kleinstadtkind am Leben gehalten. Meine Eltern hätten nie all die Bücher kaufen können, die ich dort verschlungen habe. Sie waren die Fenster und Türen in die Welt. Aber die Büchereien werden in aller Welt totgespart – was es nur wahrscheinlicher macht, dass Bücher auf Papier irgendwann Antiquitäten sind. Dabei ist ein schön gemachtes Buch auf Papier, mit Karten und Illustration, natürlich immer sinnlicher als eine App.

Nächstes Jahr soll der dritte von fünf „Reckless“-Bänden erscheinen...

Funke: Es werden doch eher sechs.

Das kommt dieser Frage sogar entgegen: Viele lange Romanreihen galten als unverfilmbar. „Game of Thrones“ beweist zurzeit das Gegenteil. Können Sie sich „Reckless“ als TV-Serie vorstellen? Der Boom von hochklassigen Fernsehproduktionen in den USA ist ja enorm.


Funke: „Game of Thrones“ ist ein fantastisches Beispiel. Wenn ich die Alternative zwischen Spielfilm und Fernsehserie hätte, würde ich mich immer für die Serie entscheiden. Die Erzählung ist besser, es gibt keinen Druck, teure Stars zu casten, man sieht viele frische Gesichter. „Reckless“ als Serie? Jederzeit!



Wie viel Rock ’n’ Roll steckt eigentlich in Cornelia Funke? Los Angeles ist ja wie Hamburg eine legendäre Adresse für Konzerte und zum Ausgehen.

Funke: Ich bin geradezu besessen von Coldplay oder auch Regina Spektor. Aber mit 54 bin ich nachts eher mit Schreiben beschäftigt. Mein Sohn hingegen macht elektronische Musik in seinem kleinen Studio in unserer Garage, der ist durch und durch Kalifornier.

Werden Sie denn auch in den nächsten Tagen beim Reeperbahn Festival um die Häuser ziehen?

Funke: Leider muss ich gleich weiter nach Berlin und London. Aber da ich immer noch regelmäßig nach Hamburg komme, würde ich mich gern mal wieder umschauen. Bevor wir vor 15 Jahren nach Los Angeles gezogen sind, war ich oft auf Konzerten im Logo, im Knust und in der Markthalle. Aber die Livemusikszene war damals ja noch eher übersichtlich im Vergleich zu heute und St. Pauli geradezu... bürgerlich. Ich finde es gut, dass das alte Bild der Kaufmannsstadt bunter geworden ist.

Cornelia Funke liest „Reckless. Lebendige Schatten“ Do 26.9., 16.30, Zentralbibliothek (U/SHauptbahnhof), Hühnerposten 1, Eintritt frei, www.buecherhallen.de