Zum Abschluss des Harbourfront-Literaturfests stellte der US-Autor T.C. Boyle seinen neuen Roman „San Miguel“ bei einer Lesung in Hamburg vor.
ICE 1028 Die Szene ist derart skurril, dass sie schon fast aus einer seiner Kurzgeschichten stammen könnte: Am Ende des Interviews, Sechserabteil im rappelvollen ICE zwischen Bremen und Hamburg, lässt sich das holländische Ehepaar auf den Fensterplätzen T.C. Boyles neuen Roman „San Miguel“ signieren, von dem die mitreisende Mitarbeiterin vom Hanser Verlag natürlich ein frisches Exemplar griffbereit in ihrem Handgepäck hat. Zuerst dachten die beiden vielleicht, wer mag dieses lustige, nicht mehr ganz junge Frank-Zappa-Double sein, mit Totenkopfring, Perlenkette und roten Converse-Turnschuhen? Aber als Boyle, mit der freundlichen, hier und da von der pointenverzierten Routine des Bestseller-Autors umflort, ins Plaudern kam, merkten sie zügig, neben wem sie ihre Platzkarten hatten.
Wenige Stunden später wird Boyle beim Harbour-Front-Festival vor 1300 Fans – Leserinnen und Leser wäre zu niedrig gehängt – im Audimax seine neue Geschichte präsentieren, die historisch erzählende, zur Abwechslung einmal gänzlich unironische Geschichte zweier Familien, die auf einer kargen Insel vor der kalifornischen Küste Schafe züchten. Muss man mögen, so etwas. Aber Boyle, 64 Jahre jung, weiß nach gut drei Jahrzehnten im Job, wie gut er ist; ihn bringen auch romanfernere Fragen in der Bahn nicht aus der Bahn.
Vor Kurzem hat Boyle auf „Was mögen Sie nicht?“ mit „Literaturkritiker, Literaturkritiker, Literaturkritiker, Literaturkritiker, Literaturkritiker“ geantwortet. Das ist sein Humor, am gesprochenen Wort nicht immer sofort zu erkennen. Zum Warmwerden also anderes: „Klassik, Jazz, gern auch Oper – Hauptsache, sie ist in einer Sprache, die ich nicht verstehe“, damit wäre geklärt, ob Boyle, der mittlerweile 24 Romane veröffentlicht und den 25. vor einer Woche abgeschlossen hat, beim Arbeiten Musik oder Ruhe braucht. „Die Worte dürfen einem nicht dazwischenkommen und den Fluss unterbrechen.“ Rückblicken, werten, das eine Buch für doch etwas gelungener als das andere halten? All das ist von ihm nicht zu haben. „Die Vergangenheit ist mir egal, mich interessiert immer nur die nächste Geschichte, die ich schreiben kann.“
Der Kollege Richard Ford meint, erste Sätze seien ja einfach, aber der letzte Satz, der sei wirklich hart. „Nein, das sehe ich nicht so“, entgegnet Boyle, während zwei Plätze weiter das holländische Publikum die Ohren spitzt. „Man fängt enthusiastisch an, sieht etwas, folgt etwas, ohne schon zu wissen, woran man ist. Hart wird es mittendrin, denn irgendwann, früher oder später, läuft man gegen eine Wand. Die Finales entstehen immer wie im Rausch.“
Boyle kommt aus Köln, muss nach Hamburg nach München, dann darf er wieder für eine Woche nach Hause, nach Kalifornien, bevor es wieder auf US-Lesereise geht. Neulich erst war er in Wien. Dort wurden im Rahmen der jährlichen Aktion „Eine Stadt. Ein Buch“ 100.000 Exemplare seines Romans „América“ gratis verteilt. „Finde ich super, diese Idee“, kommentiert Boyle, „weil es mein Buch war“. Wohl wieder eine dieser Humor-Einlagen.
Das unfehlbare Rezept für ewiglichen literarischen Erfolg? „Fanatismus, zwanghaftes Arbeiten, ein üppiges Ego. Und viel Glück.“ Schreiben sei einfach, man müsse nur in die Tasten bluten, hat Hemingway behauptet. Dieses Zitat kannte der langjährige Literaturprofessor Boyle nicht, aber er sieht diese Angelegenheit auch anders. „Man muss in einem Traum sein, während man wach ist, um Literatur zu erschaffen. Meine Technik ist: Ich schreibe ständig um, und wenn ich Glück habe, vergesse ich, dass ich arbeite. Und wer ich bin.“ Zum Batterieaufladen geht’s für Boyle mit Hund, Buch oder beidem in den Wald, wie weiland der Naturmystiker Henry David Thoreau, eines seiner Vorbilder.
Und wo wir schon bei den Schwergewichts-Fragen sind (und Boyle im Zug auch nicht entweichen kann): Was kann gute Literatur im Leben bewirken? „Das gleiche wie ein Konzert oder jede andere Art von Entertainment: Sie bringt Dich jenseits von Dir selbst, für eine gewisse Dauer.“ Ist Dan Brown ein schlechter Autor, oder nur brutal erfolgreich? „Keine Ahnung. Ich habe noch nie Genre-Literatur gelesen. Keine Krimis, und auch nichts mit Vampiren. Es gibt so viele Autoren, die ich gern lesen möchte, die Gutes schreiben.“ Das einzige guilty pleasure, das Boyle ohne einen Moment des Zögerns gesteht: Science-Fiction-Filme, ganz besonders die „Alien“-Reihe. „Man investiert bei Sci-Fi-Filmen nur zwei Stunden und nicht, wie bei einem Buch, gleich eine ganze Woche. Und ich stehe sehr auf die Anfänge, die ersten 20 Minuten. Wie konstruieren sie diese Welten, wie bekommt man das Publikum dort hin, wo es noch nie war? Welche Regeln herrschen dort? So etwas interessiert mich als Künstler.“
In die Jahre geratene Pop-Produzenten tapezieren ihre Wohnungswände gern mit Goldenen Schallplatten, bei Boyle seien die Ego-Trophäen etwas weniger präsent, berichtet er. Alle literarischen Auszeichnungen, das dürften nicht gerade wenige sein, befinden sich in seinem „book room“, im Keller, mit Belegexemplaren seiner versammelten Werke aus aller Herren Länder. Als er von „book room“ spricht – „Das ist keine Bibliothek“ –, kann Boyle das zarte Grinsen dann doch nicht ganz im Zaum halten. Erfolg schützt also nicht komplett vor Eitelkeit? Auch dafür hat Boyle eine Anekdote parat. Als seine Karriere noch jung war, kamen seine Frau und seine Tochter in Los Angeles an einer Buchhandlung vorbei, in deren Schaufenster nichts von Boyles Buch zu sehen war. Frau Boyle ging also mit der Dreijährigen hinein und fragte, ob sie tatsächlich nichts von diesem T.C. Boyle hätten, der sei so toll und gerade groß in der Literaturbeilage der „New York Times“ und überhaupt, den müssten sie doch auf Lager haben. Genau da krähte die Kleine fröhlich dazwischen: „Genau! Und mein Papa ist er auch!“ Große Heiterkeit im Abteil, danach: Autogrammstunde im kleinen Kreis. Und auf dem Dammtor-Bahnsteig wartet schon ein TV-Team.