York Höllers anspruchsvolle Roman-Vertonung „Der Meister und Margarita“ wurde vom Premierenpublikum an der Dammtorstraße begeistert gefeiert.

Hamburg Falls Sie erwägen sollten, eine der mageren fünf vorgesehenen weiteren Aufführungen von York Höllers Musiktheater „Der Meister und Margarita“ an der Hamburgischen Staatsoper zu besuchen und nicht im Besitz der literarischen Vorlage sind: Rennen Sie sofort in die nächste Buchhandlung oder loggen Sie sich in Gottes Namen bei Ihrem Amazon-Prime-Konto ein und kaufen oder ordern Sie „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow, vorzugsweise in der schönen, alten Übersetzung von Thomas Reschke. Das ist die, aus der der Komponist sein Libretto destilliert hat.

Man kann ja Oper besuchen wie man will und null Ahnung von der Geschichte haben, die dort als Vorwand fürs Singen dient. Wie das genau war mit Mimi oder Alberich oder Don Ottavio oder Desdemona: Die Story liest man zur Not noch mal schnell vorm Verdämmern des Saallichts in der Synopsis im Programmheft nach. Im Falle des „Meisters und Margarita“ hilft es dagegen ungemein, das Buch gelesen zu haben. Sonst hält man das meiste von dem, was da vor allem im ersten Akt vorne und im Saal passiert, für eine der üblichen üblen Zurichtungen der Regie.

„Der Meister und Margarita“, diese grottenbittere, totlustige, atemlos und schwatzhaft erzählte, wunderbare Stalinismusgroteske aus den 30er-Jahren der Sowjetunion, ist ursprünglich ein Roman, kein Theaterstück. 500 Seiten dick. York Höller, eine der Koryphäen der zeitgenössischen Musik in Deutschland, bekam 1984 aus Hamburg den Auftrag, die erträumte Oper zu dem Bulgakow-Roman zu komponieren, der ihm so imponierte. Fünf Jahre schrieb und feilte Höller an Libretto und Musik. Als er fast fertig war, musterte das Leitungsteam, das ihn beauftragt hatte, ab. Die lokalen Nachfolger wollten von dem Werk nichts wissen. Es kam dann in Paris zur Uraufführung, später erlebte es in Köln eine weitere. Danach verschwand das Stück in der Versenkung.

Simone Young, Intendantin der Hamburgischen Staatsoper in ihrer neunten und vorletzten Spielzeit, war damals in Köln Korrepetitorin. Nun holte sie Höllers Bulgakow-Adaption heim nach Hamburg, wobei sie das Dirigat nicht selbst übernahm, sondern den ausgesprochen kundigen und engagierten Händen von Marcus Bosch überließ.

Dass es im brandenden Schlussapplaus der Premiere nicht einen einzigen Buhruf zu hören gab, lag vermutlich daran, dass alle dem Buhruf zugeneigten Zuschauer bereits in der Pause die Stätte des subjektiven Grauens verlassen hatten. Man hatte ihnen dort ja auch kräftig zugesetzt. Schwierige, kaum greifbare Musik aus dem Graben, reichlich Schlagzeuggeklöppel und elektronische Schwirrsounds über Lautsprecher im Saal, viel, viel gesprochener Text, wenig Gesang, und der nicht immer textverständlich. Das wäre vielleicht gerade noch in Ordnung gegangen. Ist ja ein modernes Stück.

Aber dann trat Corny Littmann auf, die Lokalgröße vom Spielbudenplatz, die, wo sie geht und steht, stets eine Magnum-Champagnerflasche voller Demi-monde-Geist verströmt. Im blauen Glitzeranzug, mit weißem Hemd und schwarzer Fliege, spielte der Meister vom Schmidt-Theater tapfer die Rolle des Conférenciers in jenem Varieté, das der teuflische Schwarzmagier Voland mit seinem zwielichtigen Gefolge im Handstreich übernommen hat, um „die Moskauer als Masse zu beobachten.“ Voland ködert das Publikum auch mit dem Versprechen auf Entlarvung. Seine Tricks meint er damit nicht.

In dieser langen Szene gönnt sich der Regisseur Jochen Biganzoli, ein Konwitschny-Schüler, ein paar auf Hamburg gemünzte große Freiheiten. Die Engführung von sechs wesentlichen Charakteren auf drei Doppelrollen und die Verdreifachung des Meisters würden auch auf jeder anderen Bühne überzeugen. Doch in der Varieté-Szene geht es hinab in die Niederungen unserer Stadt. Programmgemäß knallt oder zündet keine der Pointen so richtig. Littmann witzelt trüb über HSV und Elbphilharmonie, er ranzt das Parkett an, die Moderation eiert am Fremdschämen entlang. Das selbstverliebte Dampfgeplauder aber ist genau so gemeint; schließlich fordert im Roman– und auch aus dem Hamburger Opernsaal – bald jemand, man solle dem Conférencier den Kopf abreißen. Was auch prompt geschieht.

Keine Bange, Corny kriegt seinen Kopf zurück. Als es zuvor erst falsche Zwanziger, dann zwei echte Fuffziger aus der Saaldecke regnet, ist das bei seiner Geldehre gepackte Parkett augenscheinlich nicht amüsiert, bleibt aber stumm. In der ersten Reihe und auf den Rängen sind Mitwirkende postiert, die exakt jene Publikumsreaktionen simulieren, die Bulgakow ersann. Die Indignation erreicht ihren Höhepunkt, als der Vorhang aufgezogen wird und sich den Augen (mit hübsch seitenverkehrtem Logo) ein Apple-Store darbietet. Voland und seine Entourage verschenken iPads, iPhones, Macbooks an alle, die ihre Altgeräte loswerden wollen. Bei Bulgakow war es französische Couture, die das Varieté-Publikum zur Mitnahme anstachelte – die Regie-Attacke auf den Kommunikationsmarken-Fetisch unserer Tage trifft den Zeitgeist präzis.

Höllers Musik erhebt die Unruhe, die latente Bedrohung durch das Wahnsinnigwerden zum Prinzip. An- und abschwellende Klänge, aggressive, punktuelle Tonballungen, ungewöhnliche Klangverbindungen etwa zwischen Harfe und Vibrafon, Bongo und Spinett, irrlichternde Klarinettentöne, Spinnenstreicher, ein untergründiges Rascheln und Rasseln von einer Vielzahl von Perkussionsinstrumenten – die Schlagzeuggruppe muss vom Orchesterprobensaal zugespielt werden, da sie im Graben keinen Platz findet: All das summiert sich zu einer ebenso ungefälligen wie faszinierenden Klangsprache. Nur Höllers in die Partitur montierte Fetzen von „Sympathy For The Devil“ wirken überlebt postmodern.

In Johannes Leiackers Bühnenbild, klug reduziert auf weniges weißes (Anstalts-)Mobiliar und einen Lichtkäfig aus Neonröhren, agiert ein zwischenzeitlich prächtig kostümiertes Ensemble (Heike Neugebauer), das mit sängerischem Glanz kaum punkten kann – Höller versagt dem Sujet (und dem Publikum) jeden schmelzenden Melos. Die Sängerdarsteller bringen dennoch Emotionen und die raffiniert verdichtete Handlung überzeugend rüber.

Im zweiten, weniger turbulenten Akt gibt es einen bezaubernd zwielichtigen Mysterienball, bei dem die in eine schöne Hexe verwandelte Margarita (Cristina Damian) von Voland (Derek Welton) ein Wiedersehen mit ihrem irre gewordenen faustischen Meister (Dietrich Henschel) verlangt. Ihren Frieden im Tod können die beiden haben, aber ins Licht dürfen sie nicht. Voland lässt auch gegenüber Gott keinen Zweifel daran, wer in dieser aus den Fugen geratenen Welt der Allmächtige ist.