Ein Künstler, der die Gemüter erhitzt: In der Sammlung Falckenberg in den Phoenixhallen beginnt eine Ausstellung des Spaniers Santiago Sierra, die auch die Hamburger Wurzeln zeigt.
Hamburg Der letzte Besuch Santiago Sierras in der Hansestadt ist vielen Hamburgern noch im Gedächtnis beziehungsweise in der Nase. Beim Internationalen Sommerfestival 2012 hatte der spanische Künstler in einer Installation die iberische Halbinsel als Schweinefutter ausgelegt und von sieben Borstentieren in einer Performance halb wegfuttern, halb verwüsten lassen. Ein Statement, wie es typisch ist für Sierra, der in seinen Arbeiten stets auf Missstände innerhalb der kapitalistischen Logik der globalen Wirklichkeit verweist, die er jedoch stets historisch und geografisch verortet.
Seinen Siegeszug in der Kunstszene trat der 1966 in Madrid geborene Sierra an, weil er diese plakativen Statements mit einer radikalen Formsprache kombiniert, die sich aus dem Minimalismus und der Konzeptkunst speist. Aufsehen und auch öffentliche Aufregung waren ihm damit sicher. In seiner Holocaust-Arbeit „245m3“ 2006 in Stommeln bei Köln, leitete er Autoabgase in eine Synagoge ein und zog sich erwartungsgemäß überwiegend Unverständnis zu. Auf der Biennale in Venedig 2003 präsentierte er einen zugemauerten spanischen Pavillon. Nur durch die Rückseite gelangte man hinein, sofern man Inhaber eines spanischen Passes war. Der ausgrenzende Charakter von Papieren wurde für manche schmerzlich spürbar.
Die Deichtorhallen/Sammlung Falckenberg widmen Sierra jetzt in einer Kooperation mit der Kunsthalle Tübingen die bislang umfassendste Schau. Hamburg ist der richtige Ort dafür, denn wie frühe Arbeiten um 1990 dokumentieren, hat er prägende Jahre an der Hochschule für Bildende Künste (HfbK) bei Franz Erhard Walther, Bernhard Blume und Stanley Brown verbracht. Die Fotoserie „Berge/Mountains“ von 1990 etwa zeigt eindrucksvoll aufgetürmte Schutthalden in Harburg. Bis heute schätzt er die ernsthafte Art und Weise, wie eine breite Öffentlichkeit in Deutschland über Kunst diskutiert.
Umgekehrt hadert Sierra nach wie vor mit dem republikanischen Selbstverständnis Spaniens und lehnte es 2010 ab, den spanischen Nationalpreis entgegenzunehmen. In der Folge des erweiterten Kunstbegriffs Walthers, verwandelten sich seine Skulpturen in politisch aufgeladene Performances. Die Ausstellung konzentriert sich mit insgesamt 70 Arbeiten auf den Santiago Sierra im Kontext der Kunst, dokumentiert anhand von Relikten seine Performances, zeigt Skulpturen, Fotografien, Filme und Skizzen.
Für die Land Art „Die Löcher von Je“ (2002) ließ er sieben afrikanische Lohnarbeiter bei Cadiz in Südspanien ein gigantisches Feld von 3000 Gräbern ausheben, Symbol für die vielen zu Tode gekommenen Flüchtlinge. Daneben findet sich eine Schmucksammlung, die mit Emblemen wie „Diamond Traffic Kills“ auf den Zusammenhang von Edelsteinen und den Blutzoll ihrer Beschaffung in den Minen verweist.
Hinter der Aktion wird mitunter der Blick auf die kunsthistorischen Bezüge unscharf. So lassen sich aus dem anarchistischen Schwarz in „Schwarze Flagge der spanischen Republik“ (2007) etwa Bezüge zu Goya herauslesen. Andere Arbeiten erweisen klar der jüdischen Hamburger Künstlerin Eva Hesse Reverenz.
Nachdenklich stimmen fast alle Arbeiten, die eindringlichste findet sich im obersten Stockwerk. „Anthropometrische Module aus menschlichen Fäkalien, konstruiert von den Leuten von Sulabh International“, Indien (2005 bis 2007). Latrinenreiniger haben drei Jahre abgelagertes Material mit Kunststoff versetzt und in Holzformen zu einer geruchsneutralen Erde getrocknet.
Da für Sierra die kapitalistische Welt a priori schuldig ist, basierend auf der Ausbeutung der Menschen, die sie formen, hat auch er sich stets der Menschen, etwa Asylanten oder Arbeiter, für seine Kunst bedient. „Kapitalismus ist für mich die ökonomische Spielart des Sadismus“, lautet seine Formel. Kritiker, die diese Praxis in seiner Kunst als ausbeuterisch anprangern, gehen da dem Offensichtlichen auf den Leim. Sie verkennen den Willen zur Systemkritik, den Sierra, wenn auch gerne plakativ verpackt, äußerst gradlinig verfolgt.
Sierra wird eine Hassliebe zur Minimal Art nahegelegt, weil er sie in ihrer formalen Strenge als lebensabgekehrt empfand. In Hamburg wird er einen performativen Aspekt integrieren. Ausländische Arbeiter aus Harburg werden vier Stunden lang unter Pappkartons ausharren, zwei Männer werden den schweren, sechs Meter langen Balken aus „Objekt von 600 x 57 x 52 cm, gebaut, um waagerecht an eine Wand gehalten zu werden“ (2001), tragen.
Santiago Sierra: Skulptur, Fotografie, Film bis 12.1., Deichtorhallen – Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Str. 71, Besuch nur mit Führung Do/Fr 18 Uhr, Sa 15 Uhr, So 12, 15 und 17 Uhr, Anmeldung erforderlich; www.sammlung-falckenberg.de