Der Hamburger Autor hat sich rund 25 Jahre mit seinem Buchprojekt beschäftigt, häufig hat er die zentralasiatische Region bereist. Jetzt ist „Samarkand Samarkand“ bei Hoffmann und Campe erschienen.

Hamburg. In Hamburg herrscht Krieg. Todesschwadronen ziehen durch den Westen der geteilten Stadt, die Russen feuern über die zugefrorene Alster und beschallen sie von der besetzten Moschee aus, so dass der Muezzin, der vom Turm der St.-Johannis-Kirche zum Gebet ruft, kaum noch zu hören ist. Selbstmordanschläge, Milizen, Scharfschützen, Panzerfaust-Schlachten im Schanzenviertel. Nur auf die Krugkoppelbrücke, wo der „Deutschenstrich“ ist, kommen Soldaten aller Lager.

Die Welt ist eine andere. Und Deutschland, überhaupt Mitteleuropa, ist zum Jahreswechsel 2026/2027 kein sehr gemütliches Fleckchen.

Erleichternd fast, dass es nach diesem Prolog sogleich in den Orient geht: „Alle Wege führen nach Samarkand“, heißt es schon früh im Roman, der das Hamburger Kriegsszenario zu Beginn eindrucksvoll schildert und der den so geheimnis- wie verheißungsvolleren Städtenamen gleich doppelt im Titel trägt: „Samarkand Samarkand“ von Matthias Politycki.

Alle Wege führen nach Samarkand, zum Weltkulturerbe, zur „Perle der Seidenstraße“. Einordnungen, die Politycki jedoch nur am Rande interessieren. Sein Samarkand, das deutet schon der düstere Buchumschlag an, der direkt mit derlei Seidenstraßen-Romantik-Erwartungen bricht, ist vielmehr Ausgangspunkt für eine Tour de Force, die den Deutschen Alexander Kaufner von Hamburg aus tief in die usbekischen Berge, Traditionen, Mythen und Religionen führt; oder in die kirgisischen, die tadschikischen, wer kann das schon so genau unterscheiden, jene unwirtlichen Regionen der „-stans“ jedenfalls, in denen die Grenzziehungen nie ganz so eindeutig sind, in denen sich die dort lebenden Völker seit Jahrtausenden aufs Heftigste bekriegen und vermischen.

Alle Wege führen nach Samarkand. So ist es im Roman, so war es wohl auch für den Autor selbst, der diesen Roman vor mehr als einem Vierteljahrhundert begann. Beginnen wollte, immer wieder tatsächlich begann und immer wieder verwarf. „Samarkand Samarkand“ war ein zunächst eher diffuser Stoff, der Matthias Politycki früh in seiner Schriftstellerlaufbahn begegnete, auf einer privaten Reise. 1987 war er zum ersten Mal an der sagenumwobenen Seidenstraße, noch bevor sein erster eigener Roman erschienen war und noch vor dem Zusammenbruch des Sowjetreiches also, während er sich beruflich gerade mit der „Farbe der Vokale“ beschäftigte. Es war, so schildert es Politycki heute, eine Reise, die ihn in der Samarkander Altstadt zum Gedanken trieb: „Hier wird er losgehen, der Dritte Weltkrieg.“ Ganz so weit kam es bekanntermaßen bislang nicht, aber an Krisen und Kriegen war gerade die zentralasiatische Region seither nicht arm.

„Jede Sache musste ganz zu Ende gebracht werden.“ Das war die Devise des unerbittlichen Dschingis Khan, so grausam, furchtbar und endgültig dieses Ende auch sein mochte. Gnadenlos befolgt auch von seinem Nachfahren Timur, dem Schrecklichen, auf dessen Spuren sich Polityckis Held bewegt, hartnäckig befolgt, in gewisser Weise, also auch von diesem Deutschen Alexander Kaufner auf seiner Mission, und ebenso, auf andere Art natürlich, von Matthias Politycki. Auch er hatte seine „Sache“ zu einem Ende zu bringen, dieses ungeschriebene Buch, über das er schon Vertragsdeals abgeschlossen und dann doch nicht eingehalten hatte, von dem er Freunden, Verlegern, Lektoren in all den Jahren jedoch immer wieder und ausführlich berichtet hatte.

Nur zum Aufschreiben reichte es nie.

Stets kam ein anderer Stoff dazwischen, der „Weiberroman“, der große Kuba-Roman „Herr der Hörner“ (der im Rückblick übrigens fast wie eine Stilübung zu „Samarkand Samarkand“ erscheint), der Kreuzfahrt-Schelmenroman „In 180 Tagen um die Welt“, Gedichte, Reisereportagen, Essays (rückblickend besonders interessant: „Weißer Mann, was nun?“, ein früher Nachruf auf die westliche Kultur), die zarte „Jenseitsnovelle“. Bis jetzt.

„Samarkand Samarkand“ ist geschrieben, ist erschienen (bei Hoffmann und Campe), der Autor spürt bereits einen „Phantomschmerz“, wie er lächelnd eingesteht, und Kaufner, die Hauptfigur, ist als einsamer Agent von Hamburg aus im zentralasiatischen Gebirge unterwegs. Um, ja, nicht weniger als die Welt zu retten. Unsere zivilisierte, westliche Welt, deren Untergang in Wahrheit längst eingetreten ist.

„Samarkand Samarkand“ ist ein Abenteuerroman, ein „Gebirgsroman“, wie es der Autor selbst nennt, eine (wenngleich eher schüchterne) Liebesgeschichte und eine unglaublich schöne und dankenswert unkitschige Naturbeschreibung. Es ist aber auch eine finstere politische Vision. Kein Science Fiction, dafür liegt es doch zu nah an der Gegenwart. Vielmehr ein Buch der „verlängerten Gegenwart“, in dem Politycki die Dinge, wie er es flapsig ausdrückt, „mal literarisch in die Saftpresse genommen“ hat. Er verdichtet, seziert, übertreibt, und führt abseits jeglicher Political Correctness genüsslich in die Katastrophe.

Es herrscht Krieg, überall, aber vor allem im strategisch interessanten Europa. Die „Truppen des Kalifen“ stehen am Rhein, der tonangebende Sender „Gazprom TV“ zeigt Bilder vom Brandenburger Tor, auf dem die russische Fahne geschwenkt wird, ein Zusammenschluss namens „Die Faust Gottes“ wütet sich durch deutsche Städte. Der Höhepunkt ist die komplette Auslöschung Kölns, ein grausames Massaker an der gotteslästerlich karnevalistischen Bevölkerung, deren Köpfe zu abschreckenden „Schädelpyramiden“ aufgetürmt werden. Der Kölner Dom? Konsequent gesprengt.

Westeuropa sei „mit seiner offenen Flanke im Süden und Südosten zum Orient entblößt“, schrieb erst kürzlich die „FAZ“ in einem politischen Kommentar. Politycki treibt diese Einschätzung literarisch noch einige Umdrehungen weiter. Die Kräfteverhältnisse werden im Roman schon durch die Namen der an Rande handelnden (oder eben: angesichts der islamistischen Übermacht gar nicht mehr handlungsfähigen) Personen schnell deutlich: US-Präsident Ping Shengli erklärt das völlig enteierte Amerika zur „Friedensnation“, Deutschlands Bundeskanzler Mehmet Yalçin (von Politycki übrigens nach einem tatsächlich existierenden türkischen Gastronom aus der Schanze benannt) bemüht sich – zur Rettung der „Deutschländer“! – um einen Einmarsch der Türken. Kaufner wird von einer Widerstandsbewegung in die zentralasiatischen Berge geschickt, um – so jedenfalls interpretiert er selbst diese Mission – ein paar heilige Knochen zu finden und zu zerstören. Ein gefährlicher und vor allem hochsymbolischer Akt, darin vielleicht der Zerstörung des World Trade Center ähnlich. Er trifft in Samarkand auf uneindeutige Gastgeber, uneindeutige Nationalitäten und uneindeutige Zeichen, auf das junge Mädchen Shochi, das ihm – vielleicht – als einzige wohlgesinnt ist, und auf den jungen Bergführer Odina, der den besessenen deutschen „Heiligen Krieger“ – vielleicht – als einziger sicher durch die kargen Gebirgszüge führt.

Hier, in hohen Höhen, spielt ein großer Teil des Romans, der übrigens keineswegs ein Kriegsroman ist. Man merkt auch diesem (in mancherlei Hinsicht) starken Stück Literatur an, dass ihr Autor – wie schon für den „Herrn der Hörner“ – ausgiebig vor Ort war und die Atmosphäre, die geschichtsträchtigen Geheimnisse, die Schönheiten und die (vergangenen und möglichen künftigen) Schrecken geradezu verinnerlicht hat. Und der zudem über eine Sprache verfügt, die es vermag, diese Schönheit, aber auch die Komplexität und Zerrissenheit wiederzugeben.

Er habe, sagt Politycki, bei einer dieser an politische wie persönliche Grenzen gehenden Trekkingtouren durch die Pamir-Felsen gemerkt, dass er, wenn er diese Wanderung schaffe, eines Tages auch den Roman würde bezwingen können. „Er wollte seine Sache zu Ende machen“, so schreibt er über Alexander Kaufner, „ein Mann und ein Berg, nichts, was dazwischen kommen durfte.“

Dem Schriftsteller ist auf seinem Weg einiges dazwischen gekommen. Seine Sache zu Ende geführt hat er dennoch. Mit „Samarkand Samarkand“ ist ihm die Bezwingung beeindruckend gelungen.

Matthias Politycki liest heute, 19.30, im Literaturhaus (Schwanenwik 38, Moderation: Christof Siemes, Die Zeit); und am 12. 9., 19.00, in der Reihe „Zwischen Kopf und Kragen“ in The Box (Borselstr. 16f, Moderation: Maike Schiller, Hamburger Abendblatt)