Ein Hamburg-Buch: Sabine Peters erzählt in ihrem hinreißenden Roman „Narrengarten“ von den Sorgen und Nöten der Großstädter. Dabei gelingt ihr ein Panorama der Gegenwart mit hohem Wiedererkennungswert

Hamburg. Der Narr ist seit dem Mittelalter für Unterhaltung und Amüsement zuständig, heute trifft man ihn vor allem im Privatfernsehen an, wo er er auf Indoor-Bühnen und in Outdoor-Dschungeln herumhampelt – ein tragisches Geschöpf, nahe dem Wahnsinn. In „Narrengarten“, dem erstaunlichen neuen Roman von Sabine Peters, braucht es dagegen nicht viel, um ein Narr zu sein. Narr zu sein heißt da nämlich, am Leben zu sein, das Leben zu leben, so gut es eben geht: der Existenz etwas abzugewinnen, das mehr ist als bloßes Herumbringen des Tags.

Dabei macht sich das Personal ihren Episodenromans niemals unmöglich, es verliert nicht seine Würde – und deshalb sind die Figuren im „Narrengarten“ keine wirklichen Narren, auch wenn sie der Unterhaltung des Lesers dienen. Da ist zum Beispiel Eberhard, der mal Redakteur war und jetzt gediegen säuft, seiner Frau ist das ein Ärgernis. Er bringt ihr Süßes, ein Friedensangebot. Trostschokolade, könnte man sagen. Er selbst hat sie nicht nötig, denn wenn er durch die Straßen seines Quartiers wandelt, ist er frei. Nur zu Hause muss er aufpassen, dass er nicht ständig Lotte vor die Augen läuft. Und da ist Piet, genauer: Dr. Piet Baumgarten, promovierter Kunsthistoriker, ein Mann mitten im Leben, er wird in seinen Träumen vom Früher verfolgt: Da sind Schmerzen und Ängste, sie schnüren ihm den Hals zu: „Es ist zu viel Herz im Hals“. Und da ist die Portugiesin Lino, die nach langer Zeit an den Ort zurückkehrt, an dem sie fast 30 Jahre gelebt hat. Vertraut, das alles, aber die alten Freunde nerven ein bisschen, sie finden nämlich, dass früher alles besser war.

Die Melancholie durchdringt den Alltag der Helden im „Narrengarten“, denn oft funktionieren ihre Familien nicht, oder die Träume zerplatzen. Mal sagt einem die Tochter per SMS ab, dabei ist man schon am Bahnhof, um sie abzuholen. Und wenn Sabine Peters, die oft warmherzige Erzählerin, will, kann sie auch boshaft sein: Dann schildert sie das Eheleben zweier ganz und gar furchtbarer Menschen, die eine eine trotzige Hausfrau, die nur vorgibt zufrieden zu sein, der andere ein untreuer Anwalt, der wegen dem Komfort der Ehe-Gewohnheit die Scheidung scheut. Es sind noch viele, viele Protagonisten mehr, die die 1961 in Neuwied geborene Sabine Peters in ihrem ersten Roman seit dem hochgelobten, vor drei Jahren erschienen „Feuerfreund“ auftreten lässt. Sie entstammen allen Schichten und Generationen, und sie sind alle näher oder ferner miteinander bekannt.

Ein Bild des gegenwärtigen Hamburg

Aber eine zusammenhängende Geschichte erzählt Peters nicht, ihre kleinen Geschichten sind Ausschnitte aus dem Alltag von Großstädtern im 21. Jahrhunderts. Die sind alle so wie Klaus, der vor den Stürmen der Metropole in die belebte Ruhe der Kunsthalle flüchtet: Auf der Suche nach dem Frieden mit sich und den anderen. Klaus, der Herzinfarktpatient, denkt vor Beckmanns Gemälde über das Wesen des Odysseus nach, über die eigene Sterblichkeit – und „den gnadenlosen Blick der Jungen“, die mit ihrem Lehrer im Museum sind. Peters’ polyphoner Text bleibt nahe an seinen Hauptfiguren und wechselt immer wieder die Perspektive, schildert Gedankenflüsse und Bewusstseinsströme. Es ist faszinierend, wie auf diese Weise kleine Portraits ganz unterschiedlicher Menschen entstehen.

Und es ist vielleicht nicht nur für Hamburger Leser besonders charmant, wie gleichzeitig ein Bild des Hamburgs entsteht, wie wir es in der Gegenwart vorfinden. „Narrengarten“ spielt nicht einfach nur in Hamburg, es ist – das kann man durchaus so sagen – eine Ode an die Hansestadt. Die Schauplätze sind, unter anderem, Uhlenhorst, St. Georg, Eimsbüttel, die Bücherhalle am Hühnerposten, der Dom auf dem Heiliggeistfeld, Rathausmarkt, die Mönckebergstraße. Peters gelingt es immer, Szenen mit großem Wiedererkennungswert einzufangen. Die Kartografierung Hamburgs ist hier eine Grundbedingung, Städte machen Leute – und manchmal brechen die aus gewohnten Mustern. Dem Fremdgeher Heiko tun sich, wenn er mit seiner Flamme unterwegs ist, neue Horizonte auf: „Im alten und vertrauten Stadtplan entstand Hamburg neu“.

Sabine Peters geht es in ihrem stellenweise hinreißenden Buch auch darum, die Zufälligkeit aller Biografien auszustellen, die durch die Wahl eines Zuhauses aber zumindest manche Unwägbarkeiten ausschließen. Glück stellt sich damit nicht automatisch sein, jedoch das Staunen über die jüngere Generation, die sich Abziehbilder auf Facebook anlegt und manchmal nicht schnell genug aus Hamburg rauskommen kann, um in die Weite der globalisierten Lebensentwürfe einzutauchen. Eltern verstehen ihre Kinder nicht, was wollen die in Schanghai? Die Jungen sind manchmal vor der Zeit tiefsinnig, die Mittelalten hetzen der sich nie einstellenden Erfüllung hinterher, die Älteren versuchen mit dem zufrieden zu sein, was sie noch kriegen können: „Dom kann sehr schön sein, sagt Hermine. Wenn man nicht traurig wird bei dem Gedanken, wie die Zeit saust. Dass es nur eine Runde Leben gibt.“

Jeder muss der Hauptdarsteller in seiner eigenen Welt sein

Literatur muss nicht viel wollen, um gut zu sein. Manchmal reichen Miniaturen, um etwas Größeres zu zeigen: Das ist im Falle des „Narrengartens“ die ewige Geschichte vom Ich und wie es sich in der Gemeinschaft der anderen schlägt; wie es ist, wenn es ganz für sich ist, und welche Rollen es in der Gegenwart anderer spielt. Ein Narr ist, wer nicht weiß, dass er nur ein kleines Rädchen ist im großen Weltgetriebe – und doch darf jeder der Hauptdarsteller in seiner eigenen Welt sein, geht ja gar nicht anders. Wenn die unmittelbar erlebbare Welt Hamburg ist, haben trotzdem alle dieselben Themen: Elbphilharmonie, Mietpreise, blöde Events am Wochenende. Alle sind hier gleich mit ihren Problemen, wenn die an ihnen reißen, und doch ist jeder anders. Und ist nicht alles in Ordnung, wenn man abends von Horn, wo man schon lange lebt, nach St. Georg fahren kann, um dort mit der alten Truppe Vereinssport zu treiben? Ist doch egal, ob das spießig ist.

Hoch oben ist es am besten: „Sie steigen in eine der Gondeln, schweben langsam in die Höhe. Unter ihnen grelle Buden, das Bismarck-Denkmal, die Elbe mit den falschen Mississippi-Dampfern. Weiter Blick über die Stadt. Heller Himmel, alles ganz klar, kein Schwindel.“