Wenn Regisseur Frank Castorf im „Siegfried“, dem dritten Akt der Nibelungen-Saga, träumt und verrätselt, hält Dirigent Kirill Petrenko musikalisch alles zusammen

Bayreuth. Ja, am Potsdamer Platz in Berlin gibt es wirklich Füchse des Nachts, aber Krokodile am Alex, noch dazu bei Tage? In Frank Castorfs Bayreuther so bannender wie verstörender „Siegfried“-Fantasmagorie sind sie da, zweimal sogar. Erst eines als Schoßhund des Drachen Fafner (durchdringend: Sorin Coliban), der Mensch geblieben ist, statt in der Neidhöhle in einer Postfiliale wohnt und vor seinem plötzlichen Zuhältertod durch eine Kalaschnikow-Feuergarbe Siegfrieds dank seines verfluchten Goldrings noch viel Spaß mit käuflichen Mädels hat.

Dann watschelt am Ende des dritten Aktes ein brünstiges Panzerechsen-Duo herbei, das schnappend dem wenig von sich begeisterten Brautpaar Siegfried und Brünnhilde an der Bierbank gefährlich werden könnte. Die kampfeserprobte Walküre stößt dem einen Spitzzahn auch nach diversen Jahren Feuerzauber-Tiefschlaf treffsicher einen Sonnenschirm in den Rachen. Das andere freilich mampft das Waldvöglein (etwas scharf: Mirella Hagen), hier eine federnumwogte Revuetänzerin aus dem Friedrichstadtpalast, die schon vor Brünnhilde Siegfried entjungfert hat und jetzt von dem Gummireptil heruntergewürgt wird. Siegfried aber zieht sie wieder raus: Schließlich soll es doch ein flotter Dreier werden, das hat er vom inzwischen ziemlich fertigen Großvater Wotan gelernt, der einst Ähnliches mit seiner Frau Fricka und deren Schwester Freia praktizierte.

Wir erleben private Begegnungen der mal poetischen, mal abstoßenden Art

Somit ist Frank Castorf auch in diesem dritten „Ring“-Teil unheimlich konsequent und lässt gleichzeitig viele ratlose Buher zurück. Weil er sich offensichtlich bisweilen nicht um die Musik schert, ihre pathetische Kraft unterläuft, andere Betonungen setzt als Wagner – und sich gerade darin einen aufregenden Dialog mit dem so traumschön präsenten, aber unsichtbaren, nur klingend zu erlebenden Kirill Petrenko liefert. Der dirigiert mit seinem wundersam folgsamen, auch am dritten Tag frischen Festspielorchester eine aufgeraute, variable, von heldischer Kraft strotzende, kontrastreiche, mal dunkel knurrende, dann wieder leise raunende „Siegfried“-Erzählung mit herrlich sonnigen Instrumentalspitzen. Petrenko hält so alles zusammen und dröselt musikalisch auf, wenn Castorf szenisch träumt und driftet, oft auch verrätselt.

In diesem surreal irrlichternden Assoziativ-„Ring“ aus der nach wie vor Funken sprühenden Castorf-Schmiede, bisweilen nahe an den Wagner-Vorgaben, dann sich mutwillig Freiheiten nehmend, geht zumindest im „Siegfried“ der Erdöl-Grundgedanke als Goldersatz weitgehend flöten. Natürlich, wir stehen am klarsten Konfrontationspunkt der beiden den Kalten Krieg beherrschenden Systeme, der auch ein Kampf um Energie und Antrieb war. Diesmal aber erleben wir vor allem eine Abfolge von privaten Begegnungen der mal poetischen, mal abstoßenden Art.

Sie gleichen einer ungeschminkten Éducation sentimentale für den Siegfried des lauten, höhensicheren, aber nicht mehr schön singenden Lance Ryan. Der ist eine miese Dandy-Bestie mit Pelzkragen, Glitzerweste und keinerlei Zuneigung zu niemandem; nicht zum Braunen am Seil; nicht zum mordlüsternen Mime, den er absticht und mit Müll überkippt; nicht zum im Frack als fahriger Alkoholiker an der Fliesenwand lehnenden Wotan, des in seiner vokalen Konzentration und darstellerischen Abgewracktheit grandiosen Wolfgang Koch; nicht zum als Objekt benutzten Waldvogel, dem er auf alten Plastikflaschen nachzupfeifen versucht; nicht zur Brünnhilde der etwas unausgeglichenen, aber im leisen wie Lauten intensiven Catherine Foster, die er aus einer Plane pult und an der er schnell das Interesse verliert.

Castorf geht trivial, rüde mit diesem Personal um, aber selten sah man die „Ring“-Figuren so nackt, so menschlich, so nah. Und dieses herzzerreißende Ende einer großen Liebesaffäre (immerhin neun Walküren-Kinder!) mit der ebenfalls am Alex residierenden Erda der wieder so souveränen Nadine Weissmann, das soll erst mal einer besser, stärker inszenieren. Auch wenn am Ende nur ein letzter, von der Präsentation der Rechnung unterbrochener Blowjob steht.