Heute beginnen die Festspiele. Viele Hamburger sind auf dem Grünen Hügel direkt dabei, zum Beispiel im Chor, im Orchester, als Solosänger oder Kartenabreißerin
Bayreuth. Bayreuth im Sommer, das ist die Generalversammlung der Wagner-Verrückten: Sänger und Musiker, Techniker, Bühnenarbeiter und alle anderen, die hier ihren Sommerurlaub opfern. Ein Proben- und Aufführungsmarathon ohne exorbitante Gagen, ein Schmoren bei hochsommerlichen Temperaturen und Hochspannung im Festspielhaus. Sie reisen für die heute beginnenden Festspiele alljährlich von Opernhäusern und Theatern aus ganz Deutschland an. Hamburg stellt in Bayreuth traditionell ein ansehnliches Kontingent, nicht nur auf der Bühne und im Orchestergraben. 32 der 725 Festspiel-Mitarbeiter sind im Wagner-Jubiläumsjahr für mehrere Wochen von der Elbe ins Oberfränkische gezogen (aus München 26, aus Berlin 85), viele von ihnen Wiederholungstäter. Was zieht die Hamburger nach Bayreuth?
Paulus van der Merve, 52, Oboist im Festspiel-Orchester, ist seit 1990 dabei. Er ist Dienstältester und Stimmführer der sieben Oboen und Englischhörner. Geboren in Johannesburg, Südafrika, kam er mit 22 Jahren nach Deutschland, um bei seinem „Oboengott“ Lothar Koch von den Berliner Philharmonikern zu studieren. Er war Stipendiat der Karajan-Stiftung, ging dann nach Detmold, wurde 1988 Solo-Oboist beim NDR-Sinfonieorchester und zwei Jahre später nach Bayreuth eingeladen. Für den Mann aus dem Konzertorchester ist es eine willkommene Abwechslung, sich zwei Monate lang auf Oper zu konzentrieren. „Es ist zwar manchmal etwas schwierig, das mit den Heimatorchestern zu koordinieren“, für die SHMF-Eröffnung kam er aber von Proben im Festspiel-Restaurant nach Lübeck.
In Bayreuth lebt er in einer Jungs-WG, zwei Solo-Oboisten, ein Englischhorn, eine Soloklarinette, die Familien sind manchmal zu Besuch. Dann ist im „Goldenen Löwen“ der Stammtisch der „Oboiten“, wie sie sich ordensgleich nennen, gut besetzt. „Wir sind eine große Familie, mit gemeinsamen Ausflügen und dem traditionellen Gartenfest ,Die Meistertrinker’“.
Im Graben gilt's dann wieder der Kunst: „Der Klang dort unten hat mich von Anfang an fasziniert, seine Wucht und die geballte Energie. Aber auch wenn ein Oboen-Solo ganz weich den Raum erfüllt, nach draußen schwebt und im Kopf die eigenen mystischen Bilder zu Wagners Musik ablaufen. Klar könnte man mit internationalen Sommerkursen mehr Geld verdienen. Aber Bayreuth macht süchtig, und so intensive Erlebnisse wie bei ,Tristan‘ mit Barenboim in den 90ern gibt's eben nur hier.“
Wilhelm Schwinghammer, 33, ehemaliger Regensburger Domspatz, singt seit der Spielzeit 2006/7 als Solist (Bass) im Ensemble der Hamburgischen Staatsoper, in deren Internationales Opernstudio er 2003 aufgenommen worden war. Als die Anfrage aus Bayreuth kam, für den König Heinrich im Lohengrin der Festspiele 2012 vorzusingen, zögerte er keinen Moment: „In diese tollen Atmosphäre und Tradition zu singen – da überlegt man nicht lang. Und kommt natürlich auch sehr gern wieder.“
Der König plaudert im T-Shirt, die Sommerhitze wird fast mit Händen greifbar kurz vor der ersten Bayreuther Premiere. Fünfmal gibt Schwinghammer 2013 den Herrscher, den er auch schon bei einem Bayreuther Gastspiel in Barcelona gesungen hat. Dafür wird vier Wochen lang geprobt – „nicht jeden Tag, aber sehr intensiv.“ Er trifft in der Kantine viele Musiker, die er aus Hamburg kennt. Daheim hat er unter Simone Young gerade den Wagner-Wahn hinter sich gebracht, sang den Fasolt im „Rheingold“, den Fafner im „Siegfried“ und den Daland im „Fliegenden Holländer“. Und nach Bayreuth geht's gleich weiter nach Washington, wo er sein Rollendebüt als König Marke in Tristan und Isolde hat.
Ist Bayreuth der Ritterschlag für einen Wagner-Sänger? „Man wird Teil der großen Tradition, bekommt das erzählt, und man wird dann schon auch anders wahrgenommen“, sagt Schwinghammer. Dafür lohnt es, sich auf die Eigenheiten der Bayreuther Akustik einzulassen. „Das ist schon etwas gewöhnungsbedürftig. Alle haben mir geraten: Lieber später singen als zu früh. Man darf sich hier eben nicht nur aufs Ohr verlassen, sondern muss einen Mittelweg finden. Die Intuition hilft da viel.“
Den ganzen Sommerurlaub hat er für Bayreuth geopfert. Würde er's wieder tun? „Es gibt rege Kontakte, aber darüber will ich jetzt noch gar nicht reden.“ Seine Augen sprechen Bände.
Hannah Schlags, 21, arbeitet während der Festspiele als eine von knapp 40 Türsteherinnen. Die gebürtig Bayreutherin studiert in Hamburg im 4. Semester historische Musikwissenschaften; der Sommer-Job an der Tür ist für sie zugleich auch Heimaturlaub. „Ich mach das, seit ich 18 bin. Auch wegen des einmaligen Privilegs, alle Opern mehrfach sehen zu können.“
Zwei Dutzend der „blauen Mädels“ sind bei jeder Vorstellung im Einsatz. Der Name stammt noch von der Farbe ihrer früheren Dienstkleidung, die inzwischen den Festspiel-Leitfarben Grau und Lila weiche musste. Sie kontrollieren Karten, helfen Besuchern, verkaufen Programmhefte und haben ihre Dienstplätze im Zuschauerraum. „Wir wechseln im Lauf der Festspiele durch, so dass wir alles aus verschiedenen Perspektiven erleben können.“
Ein bisschen verrückt muss man da schon sein, sagt Hannah Schlags. Aber die meisten ihrer Kolleginnen sind auch vom Fach, und wer die erste Saison hinter sich hat und wiederkommt, bleibt meistens dabei. Das hat den Vorteil, dass sie fachkundig auf Zuschauerfragen antworten können. „Man sitzt da ja nicht unreflektiert drin. Die Handlungen müssen sitzen, die Besetzungen auch. Und Fragen zur Inszenierung sollten auch eine Antwort finden.“
Hannah Schlags hat den Job auch schon in Hamburg an der Staatsoper gemacht. „Das Bayreuther Publikum mag ich aber mehr, die meisten haben jahrelang auf Karten gewartet, für sie ist das etwas Besonderes, sie freuen sich.“ Da sie bei den Eltern wohnt, bleibt vom Verdienst auch einiges übrig. Und wenn es irgend geht, wird man sie noch einige Sommer im Festspielhaus finden.
Karl Schineis, 50, singt seit 2001 als Tenor im Festspiel-Chor. Der freischaffende Sänger hat seine Berufung spät entdeckt. 1999, da war er 36, traf der Franke in Bayreuth eine Gesangslehrerin, die seine Stimme „auf den Körper bringen konnte“. Davor war er Schlossermeister mit eigenem Geschäft. 2000 sang er in Bayreuth vor, für den Sonderchor. 2001 holte man ihn in den Hauptchor. Drei Jahre konkurrierten Dachrinnen mit Bühnenauftritten, dann gab er die Schlosserei auf, seither ist das Singen sein Beruf.
Der führte ihn 2005 in den Chor der Hamburgischen Staatsoper, wo er bis 2011 blieb. Von Hamburg aus arbeitet er heute bei vielen Aufführungen und Projekten mit. Auch beim Wagner-Wahn, wo er in „Parsifal“, im „Holländer“ und bei den „Meistersinger“ auf der Bühne stand. „Da bin ich dann immer der einzige echte Meister, der mitsingt“, lacht er. In Berlin hatte er „Götterdämmerung“, in Kiel „Lohengrin“.
Bayreuth, das ist für den Freischaffenden wie eine große Familie, ein bisschen Stammhaus-Gefühl für einen fahrenden Sänger, eine gut funktionierende Job-Börse dazu und, sehr willkommen, für zehn Wochen ein festes Einkommen. Was er mag: „Wer hier singt und spielt, tut das freiwillig. Das spürt man. Reich wird man nicht. „Man hat's auch nicht leicht, in der Sommerhitze im dicken Rattenkostüm bei Neuenfels' ‚Lohengrin‘ alles zu geben. Aber wenn man hier singt, gehen viele Türen auf.“
In den Zuschauerraum kommt er als Chorist nur selten. „In einem Jahr, wo ich nicht mitgesungen habe, über die Kollegen. Oder jetzt, bei der gesperrten ‚Walküre‘-Generalprobe, die war für Leute mit Hausausweis offen.“ Dann ist er selbst erstaunt über die Wucht, die der gewaltige Bayreuther Chor produziert. „Lohengrin“, „Götterdämmerung“, „Holländer“ und „Tannhäuser“ stehen diesmal für ihn auf dem Plan. „Und wenn alles läuft wie angedacht, komm ich nächstes Jahr gern wieder.“
Alle sind auf ihren Plätzen, der Bayreuther Festspielbetrieb läuft sich warm, bei den Generalproben zu Frank Castorfs neuem „Ring des Nibelungen“ steigt die Spannung mit den Temperaturen um die Wette. In Ermangelung eines Vorab-Skandals üben sich Bayreuth-Beobachter gern an diesem Gedankenspiel: Wenn im vergangenen Jahr der russische „Holländer“ Evgeny Nikitin wegen eines übertätowierten Hakenkreuzes noch vor der Premiere den Hügel verlassen musste, was wird dann wohl mit dem Maler und Bildhauer Jonathan Meese, der wegen eines Hitler-Grußes in einer Performance in Kassel vor Gericht steht? Er soll 2016 in Bayreuth Wagners Allerheiligstes, den Parsifal, inszenieren. Der Wagner-Wahnsinn, er geht in die nächste Runde.