Der gelungene Band „Die Philosophie des Radfahrens“ ist – nicht nur jetzt zur Tour de France – eine Hommage an Qual und Schönheit sportiver Fortbewegung. Er erscheint im Hamburger Mairisch-Verlag.

Hamburg Als Mark Twain schon im Herbst seines Lebens angekommen war, erlebte er ein spätes Abenteuer: Er lernte das Radfahren. Nicht auf Hochleistungs-Velos, wie wir sie heute kennen (Karbon!), sondern auf deren Schwundstufe mit einem riesigen Rad vorne und einem kleinen Rad hinten, das Fortbewegungshistoriker als „Hochrad“ kennen.

Twain, der qualifizierte Aphoristiker, schrieb 1884 in seinem Essay „Von der Zähmung des Hochrads“ über seine frühen Fahrradversuche. Er kämpfte sich mit dem neuartigen Gefährt ab. Fahranfängern geht das immer so, auch heute noch. Gleichgewicht halten! Groß ist die Zahl derer, die heute mit dem High-Speed-Rad die Elbchaussee runterschießen, aber früher mal mit Stützrädern durch die Elbvororte rollten. Fahrradfahren ist bei fast jedem der erste Versuch einer Fortbewegung mit technischen Hilfsmitteln. Es ist eine völlig neue physische Erfahrung und eine philosophische dazu – die Verbindung zwischen Bewegung und Denken feiert der Mairisch-Verlag nun in dem gelungenen Band „Die Philosophie des Radfahrens“.

Natürlich kommt in dem Buch auch Twain zu Wort, der von seiner durchs Radfahren geschärften Wahrnehmung berichtet: „Ich hatte die Straße seit Jahren gekannt und immer angenommen, dass sie vollkommen eben war, aber das war sie nicht.“ Da ist nämlich eine Steigung, sanft nur, aber die Oberschenkel bemerken sie. Sowieso, die Beine: Strapaziert vom Strampeln, sind sie die sensiblen Stellen der Fahrradfahrer. Implizit schreiben alle Beiträger des Essaybandes über sie. „Die Philosophie des Radfahrens“ erschien im amerikanischen Original bereits 2010. Für die deutsche Version hat Mit-Herausgeber Peter Reichenbach einige der Originalbeiträge durch von deutschen Autoren verfasste ersetzt. Die geistige Annäherung an ein Sport-Thema bleibt aber auch in der Neu-Ausgabe eine Angelegenheit für die philosophische Fakultät, die im Falle dieses Betrachtungsgegenstands viel über die Ästhetik des Leidens schreibt.

Denn wenn sich amerikanische, skandinavische und deutsche Denker, die mit dem Rad nicht nur zur Uni fahren, sondern auch sportiv erst Berge hinauf- und dann in die Täler hinunterheizen, mit ihrer Leidenschaft beschäftigen – dann stellen sie vor allem auch Überlegungen über den Schmerz an. Sie sprechen, nachdem der Gipfel erklommen wurde, aber der tapfere Pedaleur unter einem Hungerast leidet und kaum noch seine Trinkflasche halten kann, von einer „dramatischen Transformation der eigenen Existenz“.

Oder wie der Kanadier Tim Elcombe von einer „bedeutungsvolleren“ Existenz, er erklomm wie die Radprofis der Tour de France den Mont Ventoux mit seinen 1910 Metern. Das gesteigerte Lebensgefühl, das sich in Extremsituationen einstellt, wird von allen Autoren beschrieben – und überhaupt ist „Die Philosophie des Radfahrens“ so ziemlich der klügste PR-Text, den man über das Radeln schreiben kann. Der Leumund hat ja gelitten, Stichwort Doping.

Aber was heißt Radeln – es geht ja meist um anspruchsvolle Touren, die die leidenschaftlichen Radfahrer zurücklegen, Bergetappen im Urlaub oder am Wochenende, an der amerikanischen Ostküste oder in Österreich. Zurzeit läuft noch das berühmteste Radrennen der Welt in Frankreich, da ist es gut, dass es in den Texten immer auch um verbotene leistungssteigernde Substanzen geht. Trotzdem wird deutlich, dass die Parallelwelt der kriminellen Machenschaften in einer fernen Galaxie zu Hause ist, die mit der Wirklichkeit der begeisteren Hobby-Radfahrer nichts zu hat, und wenn sie auch noch so ehrgeizig sind.

Dass die kulturelle und sportive Praxis des Radfahrens in verschiedene Zusammenhänge gestellt werden kann, beweisen zwei Feministinnen. Sie scheiben über Geschlechterunterschiede im Peloton („Radfahren wie ein Mädchen“) und kommen wenig überraschend zu dem Schluss, dass männliche Rennradler egoistischer sind als weibliche. Für die ist es schon ein Sieg, wenn der innere Schweinehund bezwungen wird. Männer bezwingen am liebsten Männer. Ein anderer Autor erinnert an die Anfänge der Critical-Mass-Bewegung, unter deren imaginärem Banner auch in Hamburg regelmäßig Aktionsfahrten stattfinden: als Fahrrad-Guerilla gegen die Straßen-Übermacht der Automobilkultur.

Knapp zwei Millionen Deutsche fahren Rennrad, und sie verschmelzen dabei mit ihren „Drahteseln“, um ein tantenhaftes Wort zu verwenden, das natürlich auf den Index gehört.

Von Drahteseln ist in „Die Philosophie des Radfahrens“ fast nie die Rede, wohl aber von ersten Touren und deren Tücken. Der fortgeschrittene Pedaleur muss den Zweck von Energieriegeln und Ersatzschläuchen kennen und dem Wind und dem Regen trotzen. Das ist vielleicht das, was am meisten von den Bekenntnisstücken dieses Bandes, die Liebeserklärungen sind, beim Leser hängen bleibt: Wie jeder sich die innige Verbindung mit Gefährt und Landschaft erst einmal erarbeiten musste.

Und wer regelmäßig viele Stunden durch die Gegend fährt, der hat auch genug Zeit, sich Gedanken zu machen. Manchmal sind die zu abgedreht: Radfahren als Revolution, wie ein Frischluft-Philosoph mit Zweirad-Expertise schreibt, nur weil zum Fahren auch das „Umstürzen“ gehört? Na ja. Geradezu rührend, aber nicht unplausibel ist dagegen die These, wie sehr die Fortbewegung per Velo – die Versöhnung von Mensch und Natur – zur Entschleunigung des Alltags beiträgt. Für den herrlich dänischen Privatdozenten Steen Nepper Larsen ist die Lebenswelt des Radfahrers eine völlig andere als die des Internet- und PC-Nutzers: ganz andere Sinneseindrücke, ganz andere Abenteuer, mehr Ursprünglichkeit, eine ganz andere physikalische und klimatische Realität: „Der Radfahrer weiß, dass der Weg wichtiger ist das Ziel.“

Und wenn er über einen genauen Blick verfügt wie Steen Nepper Larsen, dann ist er auch der Ansicht, dass Rennrad „die Verlängerung des Körpers“ ist „und zugleich eine Art Außenhaut der Geistesgegenwart“. Und man muss noch gar nicht mal auf das „Bombardement der Sinne“ spekulieren, das sich bei einer zünftigen Überlandfahrt einstellt. Auch die Stadt, wenn sie Hamburg heißt und nicht Berlin, riecht im Falle der Open-Air-Fortbewegung gleich viel besser, und mehr sehen kann man auch. Radfahren ist Lebensgefühl, Radfahren ist das gute Prinzip. Vielleicht sollte auch der ein oder andere militante Autofahrer „Die Philosophie des Radfahrens“ studieren. Im Mairisch-Verlag ist das gute Stück übrigens der einzige Titel in diesem Halbjahr. Man darf gratulieren, der Versuch sitzt.